Alera 02 - Zeit der Rache
weiter und kürzte mein gesamtes Haar auf die Länge der ersten Strähne. Nachdem ich mein Spiegelbild im Wasser betrachtet hatte, griff ich erneut zu der Waffe und schnitt alles von schulter- auf kinnlang. Das war die Länge, in der auch die Hohepriesterin ihr Haar getragen hatte. Ein Keuchen hinter mir erschreckte mich. Als ich herumwirbelte, sah ich, dass Miranna aufgewacht war und zu mir gelaufen kam.
»Alera, was tust du da? Dein Haar!«
Ich legte mahnend einen Finger an die Lippen.
»Ich musste, Mira. Komm, schau es dir an, es ist gar nicht so schlecht geworden.«
Sie fiel neben mir auf die Knie und hob eine Locke vom felsigen Boden auf.
»Aber kurzes Haar …«, begann sie mit zitternder Stimme.
»Es wird doch wieder nachwachsen.«
Miranna hatte mich daran erinnert, was es in unserem Königreich bedeutete, wenn eine Frau ihr Haar kurz trug. Das Haar kürzer als schulterlang zu schneiden, war eine gängige Strafe für Prostitution oder andere schwere Vergehen. So sollten die Frauen dem Spott preisgegeben und ausgegrenzt werden. Ich begann zwar etwas unruhig bei der Vorstellung zu werden, was andere dazu sagen mochten, aber ich wusste doch gleichzeitig, dass ich das Richtige und Notwendige getan hatte. Wenn wir erst ein paar Wochen hier gehaust hätten, wäre mein Haar ohnehin nicht mehr zu retten gewesen, und abgesehen davon – welche Gesellschaft hätte mich denn noch verurteilen sollen?
»Mira, ich denke … Um ehrlich zu sein …«
Ich streckte die Hand aus und versuchte, einige ihrer eigenen ziemlich schmutzigen Locken zu entwirren, doch sie entriss mir ihr Haar, weil sie begriffen hatte, was ich ihr vorschlug.
»Nein«, sagte sie und klang ehrlich verzweifelt.
»Es sind doch nur Haare«, sagte ich sanft und versuchte, sie zu überreden. »Du wirst es viel bequemer haben, wenn sie kürzer sind. Du kannst das, was ich abschneide, ja flechten und aufheben.«
Tränen traten ihr in die Augen, und ich verstand, warum. Miranna hatte ihr Haar schon immer geliebt. Es war springlebendig und wunderschön, ob frisiert oder offen, und sie spielte dauernd damit, wickelte es um ihre Finger. Jungen bewunderten es, wenn sie an ihnen vorüberlief, ihre Freundinnen frisierten es mit Hingabe, und unsere Mutter hatte es unablässig gepriesen. Miranna war klug genug zu wissen, dass wir sie vielleicht nie mehr wiedersehen würden. Trotzdem nickte sie und wandte mir den Rücken zu, als ich sie unerbittlich ansah. Dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht, und ihre Unterlippe zitterte wie bei einem kleinen Mädchen.
Ich griff erneut zum Messer und begann zu schneiden, allerdings nicht so kurz wie bei mir. Schulterlang würde es auch gehen und ihr ein bisschen mehr von ihren kostbaren Locken lassen. Sie weinte stumm, während ich Strähne um Strähne kürzte, bis ich endlich fertig war. Dann fuhr ich mit den Händen durch das, was übrig geblieben war und fasste es mit dem Band zusammen, das ich für meinen Knoten benutzt hatte. Ich selbst würde es für eine ganze Weile nicht brauchen.
»So«, verkündete ich. »Damit wirst du viel leichter zurechtkommen, und es ist noch nicht einmal schrecklich kurz.«
Sie fasste an ihren Hinterkopf und fühlte, was ich getan hatte, dabei schniefte sie immer noch und musterte zugleich ihr Spiegelbild im Wasser. Ich wartete darauf, dass sie etwas sagen würde, doch sie nahm nur die rotblonden Locken, die ich für sie zusammengesammelt hatte, und zog sich auf ihr Bett in der Ecke zurück. Dort rollte sie sich, die kostbaren Locken umklammernd, ein und blieb reglos liegen.
Ich beobachtete sie eine Weile voller Bedauern und Mitleid. Dann wusch ich meinen Kopf mit dem noch warmen Wasser. Nachdem ich es mit den Fingern gekämmt hatte, fand ich es einigermaßen annehmbar. Mein Nacken fühlte sich zwar ungewöhnlich kühl an, aber die Erfahrung war neu und aufregend, das war in unserer gegenwärtigen Lage ja zumindest etwas. Es kam mir fast vor, als hätte ich mich mit dem Abschneiden meiner Locken von der verwöhnten Prinzessin und späteren Königin, die ich in Hytanica gewesen war, in eine andere verwandelt. Hier draußen konnte ich einen Beitrag leisten und fühlte mich respektiert.
Dann sortierte ich mein abgeschnittenes Haar, flocht und band die am wenigsten verfilzten Strähnen zusammen und stopfte sie in die Tasche meiner Reithose, um sie nicht zu verlieren. Ich war mir sicher, Miranna würde es, nachdem sie sich von dem Schock erholt hätte, ebenso machen.
Nach einer kurzen
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