Alera 02 - Zeit der Rache
Weile gesellte ich mich zu meiner Schwester und schaffte es schließlich sogar, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Wir erinnerten uns an unsere Kindheit, obwohl es sich so anfühlte, als sei gerade jemand gestorben. Wir konnten nicht in Erfahrung bringen, wer gefallen sein mochte, aber alles, was bisher unser Leben ausgemacht hatte, existierte nicht mehr. Wir hatten also einen schrecklichen Verlust erlitten. Dennoch sprachen wir nur über glückliche Zeiten, denn ich war mir nicht sicher, was ihre geistige Verfassung aushalten würde. Außerdem waren die schlechten Zeiten ohnehin nicht erinnernswert.
Als ich hörte, dass Steldor sich rührte, entzog ich Miranna meine Aufmerksamkeit. Ich sah, wie er rastlos den Kopf von einer Seite zur anderen warf. Sofort war ich bei ihm und streckte die Hand aus, um seine Stirn zu befühlen. Da schlug er die Augen auf und sah mich ungehalten an.
Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte, denn jetzt kam er mir deutlich unbehaglicher vor als bei seinem letzten Erwachen. Er zog mit dem linken Arm an den Decken, als versuche er vergeblich, sie loszuwerden.
»Steldor?«, sagte ich, um zu sehen, ob er ansprechbar wäre.
»Was?« Das klang so schnippisch, dass ich mir sicher war, mit seinem Bewusstsein sei alles in Ordnung.
»Wie geht es dir?«
»Mir ist zu warm.«
Er drehte sich so weit, wie seine Wunde es zuließ, schien aber keine bequeme Position finden zu können. Ich machte mir Sorgen, er könne Fieber bekommen haben.
»Lass mich deinen Vater holen«, sagte ich rasch, bevor mir klar wurde, dass Cannan bereits auf den Beinen war. Er kam sofort herüber, kniete sich an Steldors andere Seite und legte ihm die Hand an die Stirn.
»Mir ist zu warm«, wiederholte Steldor, diesmal für Cannan.
»Vielleicht liegst du zu nah am Feuer«, überlegte der Hauptmann und nahm die Decken fort, die Steldor offenbar nicht mehr wollte. »Aber allein kann ich dich nicht weiter wegrücken.«
»Wo ist Galen?«
Während die beiden miteinander sprachen, sah ich Steldor prüfend an. Er schwitzte nicht. Vielleicht hatte Cannan recht, und er war wirklich zu nah am Feuer.
»Mit Galen ist alles in Ordnung«, antwortete Cannan, und Steldors Miene verriet, dass er die Frage nicht aus eigenem Unbehagen gestellt hatte, sondern aus Sorge. »Er hält gerade Wache.«
Steldor schluckte und nickte. »Und alle anderen?«
»Die anderen sind heil hier angekommen, nur Davan ist zurückgeritten, um uns zu suchen. Dann hat er die Cokyrier, die uns verfolgten, auf eine falsche Fährte gelockt.« Cannan schwieg kurz, dann sagte er mit rauer Stimme. »Er ist nicht zurückgekehrt.«
Steldor nickte, erwiderte jedoch nichts. Daraufhin richtete der Hauptmann seine Aufmerksamkeit auf mich. Kurz erschien ein fragender Ausdruck auf seinem Gesicht, als er mein abgeschnittenes Haar bemerkte.
»Alera, bringt ihm etwas zu trinken«, sagte Cannan und kommentierte meine Frisur mit keinem Wort.
Ich eilte zu der Wasserstelle, nahm mir auf dem Weg noch einen Becher, und war froh, dass der Hauptmann jetzt die Verantwortung trug. Während ich den Becher füllte, hörte ich, wie er wieder mit seinem Sohn sprach.
»Du hast vorhin nicht viel gegessen. Aber Nahrung ist wichtig, damit du gesund wirst.«
»Ich weiß«, antwortete Steldor und klang ungewohnt verletzlich. »Ich bin nur nicht …«
Er verstummte und schien zu große Schmerzen zu haben und zu müde zu sein, um sich mit Ausreden abzugeben.
»Verstehe«, lenkte Cannan ein. »Trotzdem.« Sein Ton ließ keinen Zweifel daran zu, dass er von Steldor erwartete, dass er möglichst reichlich aß.
»Gibt es irgendwas anderes als Grütze?«
»Keine große Auswahl. London ist auf die Jagd gegangen, aber bis er zurückkommt, haben wir Brot, Grütze, ein paar getrocknete Früchte und Zwieback. Such dir etwas davon aus.«
Außer dem Becher füllte ich noch einen Eimer mit Wasser und brachte Cannan beides. Zum zweiten Mal griff er seinem Sohn unter die Achseln und zog ihn vorsichtig in eine halb sitzende Position hoch, doch Steldor schrie vor Schmerz auf und rang keuchend nach Atem.
»Ganz ruhig, mein Junge«, besänftigte Cannan ihn und legte den rechten Arm als Stütze um seine Brust. Mit der linken Hand strich er ihm das dunkle Haar aus der Stirn. »Ganz ruhig. Alles wird gut.«
Steldor schien vom liebevollen Ton seines Vaters tatsächlich ruhiger zu werden, nur sein Atem ging noch unregelmäßig. Ich reichte Cannan den Becher, und er half seinem überhitzten Sohn, ihn
Weitere Kostenlose Bücher