Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
mir ein bißchen vor, als sei ich ins Theater gegangen. Die Leute waren gut gekleidet, winkten einander zu und kamen zu kleinen Grüppchen zusammen. Es handelte sich ganz und gar nicht um das Publikum, das man zum Beispiel bei einer Versammlung der örtlichen historischen Gesellschaft oder der Freunde des Universitätsmuseums erwartet hätte.
Ich ging hinein, tauschte mit ein paar Frauen ein paar Belanglosigkeiten aus und sicherte mir einen Drink. Wir ›tagten‹ in einer Reihe miteinander verbundener Konferenzräume, von denen der größte etwa dreihundert Personen Platz bot. Das schien ganz angemessen.
Die Gesellschaft verfügte offenbar über Geld: dicke Teppiche, getäfelte Wände, Kristalleuchter und elektrische Kerzen, Holzregale, Gemälde von Manois und Romfret. Talinos Bild zierte eine Flagge im Hauptraum. Und Christopher Sims Harridan schmückte das Podium.
Es gab Ausstellungen relevanter Arbeiten der Mitglieder zu sehen: historische Abhandlungen, Schlachtanalysen, Erörterungen zweifelhafter Einzelheiten dieses Krieges voller Zweifelhaftigkeiten. Die meisten waren privat verlegt, doch einige wenige trugen auch die Gepräge bekannter Verlagshäuser.
Über der Sprecherplattform tauchte wieder Marcross’ Corsarius auf.
Die Tagesordnung wurde festgelegt. Diskussionsrunden klärten die Gültigkeit ausgewählter historischer Dokumente ab, untersuchten die Beziehung zwischen zwei Menschen, von denen ich noch nie gehört hatte (sie stellten sich als obskure Frauen heraus, die Talino vielleicht gekannt und nach Meinung vieler Anwesender um seine Gunst gestritten hatten), und erörterten einige esoterische Aspekte ashiyyurischer Schlachtordnungen.
Nach einer Stunde wurden wir von der Präsidentin zur Ordnung gerufen, einer großen, feindseligen Frau mit einem starren Blick wie eine Laserkanone. Sie hieß uns willkommen, stellte ein paar Gäste vor, griff zusammenhanglos ein paar alte Angelegenheiten auf, nahm den Bericht des Schatzmeisters entgegen (es ergab sich ein beträchtlicher Gewinn) und stellte einen rotgesichtigen Mann vor, der beantragte, einen ashiyyurischen ›Sprecher‹ vom Maracaibo-Ausschuß einzuladen.
Ich flüsterte in meinen Komlink und fragte Jacob, was der Maracaibo-Ausschuß sei.
»Er setzt sich aus Militärs im Ruhestand zusammen«, erklärte er mir. »Sowohl aus unseren als auch denen der Ashiyyur, und er hat sich die Aufgabe gestellt, den Frieden zu bewahren. Es ist eine der wenigen Organisationen in der Konföderation mit außerirdischen Mitgliedern. Was geht überhaupt dort vor? Was hat der ganze Aufruhr zu bedeuten?«
Das Publikum brachte seinen Abscheu über den Vorschlag zum Ausdruck. Der rotgesichtige Mann rief etwas über den Lärm und wurde gellend ausgepfiffen. Ich fragte mich, ob es irgendeinen Ort in der Konföderation gab, wo man den Ashiyyur barschere Gefühle entgegenbrachte als im inneren Sanctum der Ludik-Talino-Gesellschaft.
Die Präsidentin verschaffte sich wieder Gehör, und der rotgesichtige Mann wandte sich angewidert ab und verschwand wieder in der Menge. Jubel erklang, schnell gefolgt von Gelächter und dem Anstoßen von Gläsern. Es war ein Spiel. Oder ein Ritual.
Die Präsidentin beruhigte die Menge mit einem strengen Blick und schickte sich an, den ersten Redner des Abends vorzustellen, einen großen Mann mit schütterem Haarwuchs, der neben ihr saß und versuchte, bei dem traditionellen Fluß der Komplimente nicht beeindruckt zu wirken. Als sie geendet hatte und seinen Namen nannte – er lautete Wyler – trat er zum Rednerpult und räusperte sich. »Meine Damen und Herren, ich freue mich, heute abend bei Ihnen sein zu können.« Er hob leicht das Kinn und nahm eine Pose ein, von der er wohl meinte, daß sie von beträchtlicher Würde zeugte. Er war allerdings ein linkischer Mensch, nur Haut und Knochen, mit dünnen Augenbrauen und einem nervösen Tic. »Es ist schon einige Jahre her, daß ich zum letztenmal in diesen Räumen weilte. Vieles hat sich geändert. Ich frage mich zum Beispiel, ob wir uns nicht kurz vor einem Krieg befinden. Ganz bestimmt stehen wir näher an der Destabilisierung. Wohin ich auch gehe, wird von der Unabhängigkeit gesprochen.« Er schüttelte den Kopf, stieß eine Hand vor und tat mit einer Geste alles ab. »Nun ja, das spielt eigentlich keine Rolle. Heute abend haben wir alle uns hier versammelt, und ich nehme an, daß die Talino-Gesellschaft, was immer dort draußen auch geschehen mag, weiterhin als Bollwerk der
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