Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
WURDE.
»Bitte drucke mir die Rede aus.«
Eine einzelne Seite fiel in den Auffangkorb. Ich nahm sie und las sie durch.
Mir blieb der Grund für Gabes Interesse unklar. Es handelte sich um kaum mehr als eine Schmährede. »(Talino) wurde von der Geschichte betrogen«, behauptete der Redner, »und ich freue mich, daß es noch einige gibt, denen an der Wahrheit liegt. Vielleicht wird die Zeit beweisen, daß Sie recht haben. Talino und auch seine unglücklichen Kameraden sind Opfer einer Verkettung unglücklicher Umstände, die ihnen etwas viel Schlimmeres als nur das Leben genommen hat. Mir ist in der gesamten Geschichte kein schlimmeres Fehlurteil bekannt. Und ich frage mich, ob es uns jemals gelingen wird, die Tatsachen richtigzustellen.«
Das war im Prinzip der Kern der Ausführungen des Redners. Er sagte es auf mehrere verschiedene Arten, er trug es weitschweifig vor, und er zog alle dramatischen Fäden. Warum sollte Gabe sich dafür interessiert haben?
Ich wunderte mich nicht mehr, als ich den Namen des Redners las. Es war Hugh Scott.
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(Menschliche) interstellare Politik ist, von ihrer Natur her, vergänglich. Sie besteht aus Zwischenfällen, einer Art St.-Elms-Feuer, das von wirtschaftlichen Umwälzungen, Bedrohungen von außen oder vielleicht dem Charisma einer Ideologie gezündet wird. Wenn die Nacht verstrichen ist und die normalen Zustände wiederhergestellt sind, flackert und verschwindet es. Keine von uns geschaffene Zivilisation kann darauf hoffen, sich zu den Sternen zu erstrecken.
– Anna Greenstein, Der Drang zum Reich
Ich hatte niemals Mensch und Olympier gelesen. Wie wahrscheinlich jedes andere Kind in der Konföderation auch, hatte ich mich in der Schule damit befassen müssen. Und ich kann mich erinnern, wie ich mich auf der Uni durch ein Kapitel Sokrates kämpfte. Aber ich habe das Buch niemals wirklich gelesen .
Auf einem Regal in Gabes Schlafzimmer stand eine gebundene Ausgabe. (Ich schlief dort nicht. Ich benutzte ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses auf der ersten Etage.)
Auf dem Nachhauseweg vom Treffen der Talino-Gesellschaft kam ich zum Schluß, es sei an der Zeit, mir Sims Klassiker noch einmal vorzunehmen.
Es ist natürlich ein Standardwerk: eine Geschichte des hellenischen Zeitalters, von den Persischen Kriegen bis zum Tod Alexanders.
Ich war immer davon ausgegangen, daß es seine Reputation eher dem Ruhm des Verfassers als inneren Werten verdankte. Doch das war ein Vorurteil, das aus dem Kampf eines Kindes mit einem ernsthaften Buch entstammte.
Ich schlug es etwa in der Mitte auf und las in beide Richtungen, wahrscheinlich gemächliche Exkursionen in die Griechische Philosophie und eine müde Aufarbeitung der Persischen und Peleponnesischen Kriege erwartend.
Doch ich bekam statt dessen eine vulkanische Energie, scharfe Meinungsäußerungen und schiere Brillanz. Man treibt nicht müßig durch ein paar politische Analysen oder starrt ein paar Pfeile auf der Karte einer Schlacht an. Nicht bei Sim. Die Staatsmänner in seinem Buch zertrümmern Tische; man kann das Mittelmeer riechen und die Planken der athenischen Triremen. Und die schrecklichen Themen Freiheit und Ordnung, Sterblichkeit und Geist sind fast schmerzend lebendig.
Wir alle sind Hellenen, schreibt er in seiner Einführung. Dellaconda und Rimway und Cormoral verdanken alles, was sie sind, den ruhelosen Denkern der Ägäis, die im besten Sinne des Wortes den ersten Schritt zu den Sternen getan haben. Nur der Geist ist heilig. Diese Vorstellung war zu ihrer Zeit eine betörende Erkenntnis. Vermählt mit der Beobachtung, daß die Natur Gesetzen unterliegt und man diese Gesetze verstehen kann, war sie der Schlüssel zum Universum.
Ich las den ganzen Tag über, bis spät in den Nachmittag. Gelegentlich machte sich Jacob im Hintergrund zu schaffen, grillte lautstark Hamburger, mixte Drinks oder schlug vor, ich solle das schöne Wetter zu einem Spaziergang nutzen.
Es gab einige Überraschungen. Sim hatte keine hohe Meinung von Sokrates, dessen Doktrinen jedermann bewundernswert würdigt (wie er eingesteht), der aber die hellenische Gesellschaft nichtsdestotrotz spaltete. Das Unselige an Sokrates’ Hinrichtung, so schreibt er, ist nicht, daß sie stattfand, sondern, daß sie zu spät stattfand.
Die ersten Seiten von Mensch und Olympier sind mit Xerxes’ Zorn erfüllt (›O Herr, erinnert Euch an die Athener‹), Themistokles’ Staatskünsten und der Tapferkeit der Soldaten, die an den Thermopylen
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