Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
möglicherweise ganz genau wusste, dass sein Mandant schuldig war. Wenn das zutraf, konnte er Shafer nicht ins Kreuzverhör nehmen. Auf rechtlicher Basis konnte Halpern ihm keine Fragen stellen, die die Fakten verschleierten, soweit er sie kannte.
Es gab nur eine Möglichkeit für Shafer, sich vor einem Publikum zu produzieren: einen Monolog. Oder besser, ein Zwiegespräch mit sich selbst. Einmal in den Zeugenstand gerufen, konnte Shafer eine Rede halten. Es war ungewöhnlich, aber völlig legal. Und wenn Halpern tatsächlich wusste, dass sein Mandant schuldig war, dann war es die einzige Möglichkeit für Shafer, in den Zeugenstand zu treten, ohne Gefahr zu laufen, vom eigenen Anwalt belastet zu werden.
»Wenn Sie bitte entschuldigen würden, Mr. Halpern«, sagte Shafer. »Ich glaube, ich kann selbst zu diesen netten Menschen sprechen. Ich bin durchaus in der Lage dazu. Wissen Sie, ich brauche keine anwaltliche Hilfe, um die schlichte Wahrheit zu sagen.«
Jules Halpern trat zurück, nickte betroffen und bemühte sich, die Fassung zu wahren. Was konnte er unter diesen Umständen sonst auch tun? Und wenn er zuvor nicht gewusst hatte, dass sein Mandant ein Egomane war oder geistig unzurechnungsfähig – jetzt wusste er es mit Sicherheit.
Shafer schaute die Geschworenen an. »Vor diesem Gericht wurde erklärt, dass ich für den britischen Geheimdienst tätig war und für den MI6 als Spion gearbeitet habe. Ich fürchte, dass ich in Wahrheit ein ziemlich unscheinbarer Agent gewesen bin – Agent Null-Null-Nichts, wenn Sie so wollen.«
Diese lockere, zielsichere Selbstkritik brachte ihm Lacher im Gerichtssaal.
»Ich bin ein einfacher Bürokrat, wie so viele, die Tag und Nacht in Washington schuften. Ich folge ausgetretenen Wegen in der Botschaft. Ich werde weit über Gebühr gelobt. Mein Familienleben ist schlicht, friedlich und geordnet. Meine Frau und ich sind seit fast sechzehn Jahren verheiratet. Wir lieben uns sehr. Unsere Kinder sind unser Ein und Alles.
Ich möchte meine Frau um Verzeihung bitten. Es tut mir schrecklich leid, dass sie diese furchtbare Tortur durchstehen musste. Ich bitte auch meinen Sohn Rob und die Zwillinge Tricia und Erica um Verzeihung. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Zirkus dies hier werden würde. Hätte ich es gewusst, hätte ich auf meiner diplomatischen Immunität bestanden, statt meinen guten Ruf wiederherzustellen, unseren guten Ruf, ihren guten Ruf.
Wenn ich mich nun von ganzem Herzen entschuldige, dann auch Ihnen gegenüber, dass ich Sie ein wenig langweile. Aber es ist schrecklich, es ist unvorstellbar , des Mordes angeklagt zu sein, und man will mehr als alles andere auf der Welt die Wahrheit sagen. Und genau das werde ich heute tun.
Sie haben die Beweislage gehört – es gibt schlichtweg keine.
Sie haben die Zeugen gehört. Und jetzt haben Sie es von mir gehört. Ich habe Detective Patsy Hampton nicht umgebracht.
Ich glaube, Sie alle wissen das, aber ich möchte es noch einmal hervorheben. Ich muss es hier sagen, vor Gott und den Menschen. Vor Ihnen, meine Damen und Herren. – Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.« Er verbeugte sich leicht.
Shafer hatte sich kurz gefasst, aber er machte einen tadellosen Eindruck und war so redegewandt, dass er – leider – -glaubwürdig wirkte. Die ganze Zeit hielt er Blickkontakt mit den Geschworenen. Seine Worte waren bei weitem nicht so wichtig wie die Art und Weise, in der er sie vortrug.
Catherine Fitzgibbon trat zum Kreuzverhör vor. Anfangs behandelte sie Shafer vorsichtig. Ihr war bewusst, dass er in diesem Moment die Geschworenen auf seiner Seite hatte. Sie wartete fast bis zum Ende des Kreuzverhörs, ehe sie Shafer an der Stelle angriff, an der er am verletzbarsten zu sein schien.
»Ihre kleine Ansprache war wirklich sehr schön, Mr. Shafer.
Sie sitzen hier vor den Geschworenen und behaupten, Ihre Beziehung zu Dr. Cassady sei strikt beruflich und dass Sie keinerlei sexuelle Beziehungen mit ihr hätten. Ist das korrekt? Denken Sie daran, dass Sie unter Eid stehen.«
»Ja, absolut. Dr. Cassady war und wird hoffentlich auch in der Zukunft meine Therapeutin sein.«
»Ungeachtet der Tatsache, dass sie zugegeben hat, sexuelle Beziehungen mit Ihnen zu unterhalten?«
Shafer streckte die Hand in Richtung Jules Halpern aus und bedeutete ihm, keinen Einspruch zu erheben. »Ich glaube, das Prozessprotokoll wird beweisen, dass sie es nicht zugegeben hat.«
Fitzgibbon runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.
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