Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
einen schnellen Schritt auf mich zu. Er war beweglich und athletisch, nicht nur kräftig. Wir waren annähernd gleich groß, an die einsneunzig, und beide knapp zwei Zentner schwer. Ich musste daran denken, dass Shafer Offizier in der Armee gewesen war, ehe er zum MI6 kam. Er schien immer noch in hervorragender körperlicher Verfassung zu sein.
Shafer schubste mich wieder mit beiden Händen. Dabei grunzte er laut. »Wenn Sie schon Bessere besiegt haben, dann musste ich doch ein Leichtgewicht für Sie sein. Ja? Ja? Ich bin ein leicht zu besiegender Gegner.«
Um ein Haar hätte ich zugeschlagen. Ich wollte es. Das Verlangen, ihn zusammenzuhämmern und dieses selbstgefällige überlegene Lächeln aus seiner Visage zu wischen, bereitete mir körperliche Schmerzen.
Stattdessen packte ich ihn, schleuderte ihn gegen die Mauer und drückte ihn dagegen.
»Nicht hier. Nicht jetzt«, sagte ich mit heiserer Stimme. »Ich werde mich nicht mit Ihnen prügeln, Shafer. Nein. Weil Sie dann zu den Zeitungen und zum Fernsehen rennen würden.
Aber ich werde Sie fertig machen. Bald.«
Er brach in irres Gelächter aus. »Sie sind wirklich komisch, wissen Sie das? Sie sind ein Vollblutkomiker. Herrlich.«
Ich ließ Shafer stehen und ging auf dem dunklen Korridor weiter. Es fiel mir so schwer wie noch nie etwas im Leben. Am liebsten hätte ich die Antworten aus ihm herausgeprügelt, ein Geständnis. Ich wollte etwas über Christine erfahren. Ich hatte sehr viele Fragen, aber ich wusste, er würde sie nicht beantworten. Er war hergekommen, um mich zu ködern, um zu spielen .
Ein Dutzend grimmig dreinschauender Pressevertreter, darunter etliche bekannte Reporter, hatte sich auf dem Parkplatz versammelt. Jemand hatte ihnen einen Tipp gegeben, dass ich hier herauskommen würde.
Ich blickte zurück zur grauen Metalltür, doch Geoffrey Shafer folgte mir nicht. Er hatte sich zurückgezogen und war im Keller verschwunden.
»Detective Cross?«, hörte ich einen Reporter. »Sie verlieren diesen Fall. Das wissen Sie doch, oder?«
Ja, ich wusste es. Ich verlor alles. Ich hatte aber keine Ahnung, was ich tun konnte, um das zu verhindern.
M ein Kreuzverhör durch Catherine Fitzgibbon nahm den folgenden Tag in Anspruch. Catherine leistete gute Arbeit, den Schaden zu begrenzen, den Jules Halpern angerichtet hatte.
Doch ganz beseitigen konnte sie ihn nicht. Ständig unterbrach Halpern durch seine Einsprüche ihren Rhythmus. Wie viele andere bedeutsame Prozesse in letzter Zeit, konnte auch dieser einen in den Wahnsinn treiben. Eigentlich hätte es ganz einfach sein müssen, Geoffrey Shafer zu verurteilen, aber das war nicht der Fall.
Zwei Tage später bekamen wir die beste Chance auf den Sieg. Shafer gab sie uns selbst, als wollte er uns herausfordern.
Jetzt wurde uns klar, dass er verrückter war, als wir gedacht hatten. Das Spiel war sein Leben; nichts anderes schien von Bedeutung zu sein.
Shafer willigte ein, in den Zeugenstand zu treten. Ich glaube, ich war der Einzige im Gerichtssaal, der nicht völlig überrascht war, dass er als Zeuge aussagen und vor unseren Augen sein Spiel aufführen wollte.
Catherine Fitzgibbon war beinahe sicher, dass Jules Halpern ihm geraten hatte, ihn gewarnt, ja ihn gebeten hatte, nicht auszusagen, aber Shafer tat es trotzdem. Als er zum Zeugenstand schritt, sah er aus, als würde er vor die Königin von England hintreten, um den Ritterschlag zu empfangen.
Er konnte einer Bühne, der Chance zu einem Auftritt nicht widerstehen. Shafer wirkte genauso zuversichtlich und gefasst wie an dem Abend, als ich ihn wegen des Mordes an Patsy Hampton verhaftet hatte. Er trug einen marineblauen Zweireiher, ein weißes Hemd und eine goldene Krawatte. Sein blondes Haar war perfekt frisiert, und es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er unter der Oberfläche seiner makellosen Erscheinung vor Wut kochte.
Jules Halpern sprach ihn im Plauderton an, aber ich war sicher, dass er sich wegen dieses unnötigen Spiels unwohl fühlte.
»Colonel Shafer, als Erstes möchte ich Ihnen danken, dass Sie in den Zeugenstand getreten sind. Das geschah von Ihrer Seite vollkommen freiwillig. Von Anfang an haben Sie erklärt, dass Sie herkommen wollten, um Ihren guten Namen wiederherzustellen.«
Shafer lächelte höflich und gebot Halpern mit erhobener Hand Schweigen. Die Anwälte auf beiden Seiten wechselten Blicke. Was geschah hier? Was hatte Shafer vor?
Ich beugte mich nach vorn. Mir kam der Gedanke, dass Jules Halpern
Weitere Kostenlose Bücher