Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
ziemlichen Vorsprung. Er schwamm mit kräftigen Kraulzügen. Sein blondes Haar glänzte im Mondlicht. Eines der Boote, die draußen auf den Wellen tanzten, musste ihm gehören. Doch welches?
Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: strecken, stoßen, strecken, stoßen. Ich hatte das Gefühl, als sammelte ich all meine Kraft von innen heraus. Ich musste Shafer einholen, musste erfahren, was er mit Christine gemacht hatte.
Strecken, stoßen, strecken, stoßen.
Sampson schwamm dicht hinter mir, dann fiel er leicht zurück.
»Los«, rief ich ihm zu. »Hol Hilfe. Ich komme zurecht. Hol jemand, der diese Boote überprüft.«
»Der schwimmt wie ein Fisch«, rief Sampson zurück.
»Hau ab. Ich komme schon allein zurecht.«
Vor mir, im sanften Mondlicht, sah ich noch immer Shafers Kopf und Schultern über der Wasseroberfläche. Er kraulte gleichmäßig und kräftig.
Ich schwamm weiter, ohne mich zum Ufer umzudrehen. Ich wollte nicht wissen, wie weit ich bereits gekommen war. Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, müde zu werden, einfach aufzugeben, der Verlierer zu sein.
Ich schwamm schneller, um näher zu Shafer aufzuschließen.
Die Boote waren immer noch ein gutes Stück entfernt, und der Kerl zeigte keinerlei Anzeichen von Ermüdung.
Ich spielte mein eigenes Gedankenspiel. Ich hörte auf, nach ihm Ausschau zu halten. Ich konzentrierte mich nur auf mein Schwimmen. Es gab nur noch die regelmäßigen Bewegungen; sie waren mein gesamtes Universum.
Mein Körper fühlte sich allmählich im Einklang mit dem Wasser, und ich genoss es, dass dieses Gefühl stärker wurde.
Meine Schwimmbewegungen wurden kräftiger, gleichmäßiger.
Schließlich wagte ich wieder einen Blick voraus. Shafer steckte in Schwierigkeiten. Oder vielleicht wollte ich es so sehen. Auf alle Falle bekam ich besser Luft und hatte wieder mehr Kraft.
Was war, wenn ich ihn tatsächlich da draußen erwischte?
Was dann? Würden wir uns bis zum Tod bekämpfen?
Ich durfte ihn nicht vor mir ins Boot lassen, weil er bestimmt Waffen an Bord hatte. Ich musste ihn vorher einholen. Diesmal musste ich gewinnen.
Welches Boot gehörte ihm?
Ich schwamm schneller. Ich redete mir ein, dass ich in guter Verfassung war. Und das stimmte. Seit Christines Verschwinden vor fast einem Jahr hatte ich jeden Tag Sport getrieben.
Wieder blickte ich nach vorn – und erschrak heftig.
Da war Shafer. Nur noch wenige Meter vor mir. Nur noch wenige Stöße. Konnte er nicht mehr? Oder wartete er auf mich und sammelte Kräfte?
Das nächste Boot war höchstens hundert Meter entfernt.
»Krampf!«, brüllte er. »Ein verfluchter …!« Dann ging er unter.
I ch wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Die Schmerzen auf Shafers Gesicht wirkten echt. Er schien Angst zu haben. Aber er war ein guter Schauspieler, wie ich wusste.
Plötzlich spürte ich etwas unter mir. Er packte mich zwischen den Beinen. Ich schrie und konnte mich befreien, aber er hatte mir verdammt wehgetan.
Dann rangen wir unter Wasser, denn der Mistkerl hatte mich mit sich in die Tiefe gerissen. Er war stark. Seine langen Arme waren wie Schraubstöcke, und er hielt mich eisern fest.
In meinem Innern stieg die eisigste und schlimmste Todesangst auf. Ich wollte nicht ertrinken. Shafer winkte der Sieg.
Fand er immer eine Möglichkeit zu siegen?
Shafer starrte mich an. Seine Augen waren unglaublich: bohrend, lodernd, irre, krank . Er hatte den Mund geschlossen, doch die Lippen waren bösartig verzerrt. Er hatte mich. Er war schließlich doch der Gewinner.
Mit aller Kraft wuchtete ich mich nach vorn. Als ich den Widerstand seines Körpers spürte, wechselte ich die Richtung und trat ihm mit dem Fuß gegen das Kinn oder die Kehle. Ich hatte ihn gut getroffen, er begann zu sinken.
Seine blonden Haare wogten um sein Gesicht, die Arme und Beine wurden schlaff.
Ich bekam ihn gerade noch zu packen. Sein Gewicht zog mich mit in die Tiefe, doch ich wollte ihn nicht loslassen. Ich musste die Wahrheit über Christine erfahren. Ohne dieses Wissen konnte ich nicht weiterleben.
Ich hatte keine Ahnung, wie tief das Wasser hier war. Shafers Augen und sein Mund waren weit offen. Inzwischen musste die Lunge sich mit Wasser gefüllt haben.
Ich überlegte, ob ich ihm bei meinem Fußtritt das Genick gebrochen hatte. War er tot oder nur bewusstlos? Irgendwie erfüllte mich der Gedanke, dem Wiesel das Genick gebrochen zu haben, mit Genugtuung.
Aber es spielte eigentlich keine Rolle mehr. Nichts war mehr wichtig. Mir ging
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