Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
deren Bedeutung jedoch niemand überbewerten oder gar hochstilisieren wollte: Geoffrey Shafers Leiche war immer noch nicht aufgefunden worden. Irgendwie schien das ein passendes Ende zu sein.
Am Dienstagmorgen sollten Sampson und ich mit der ersten Maschine zurück nach Washington fliegen. Der Flug war auf zehn nach neun Uhr angesetzt.
An diesem Morgen jagten schwarze Wolken über den Himmel, gepeitscht von stürmischem Wind. Heftiger Regen prasselte auf der Fahrt vom Hotel zum Flughafen auf das Autodach. Schulkinder liefen am Straßenrand entlang und schützten sich mit flatternden Bananenblättern gegen den Regen.
Der Regenguss erwischte uns, als wir den Schutz des Blechdachs vor der Mietwagenfirma verließen. Der Regen war kühl.
Er fühlte sich angenehm an auf dem Gesicht und am Rücken, auf dem mein Hemd klebte.
»Wird Zeit, dass wir nach Hause kommen«, sagte Sampson, als wir zu einem leuchtend gelb bemalten Blechdach rannten, um uns unterzustellen.
»Da hast du verdammt Recht«, pflichtete ich ihm bei. »Ich vermisse Damon und Jannie und Nana. Mir fehlt mein Zuhause.«
»Sie finden die Leiche«, meinte Sampson. »Shafers.«
»Ich weiß, wen du gemeint hast.«
Der Regen prasselte erbarmungslos auf das Dach des Flughafengebäudes. Unwillkürlich dachte ich daran, wie sehr ich es hasste, an solchen Tagen zu fliegen – aber es würde gut tun, wieder daheim zu sein und diesen Albtraum beenden zu können. Er hatte meine Seele vergiftet, mein Leben übernommen.
Auf eine Weise, die vermutlich ebenso ein »Spiel« war wie jedes andere, das Shafer gespielt hatte. Der Mordfall hatte mich länger als ein Jahr beherrscht, und das war genug.
Christine hatte mich gebeten, aufzugeben. Nana ebenfalls, aber ich hatte nicht auf sie gehört. Vielleicht war ich nicht imstande gewesen, mein Leben und meine Handlungen so deutlich zu sehen wie jetzt. Ich war der Drachentöter, und das im Guten wie im Bösen. Letztendlich fühlte ich mich verantwortlich für die Entführung und die Ermordung Christines.
Sampson und ich gingen an den bunten Verkaufsständen vorbei, doch ohne echtes Interesse. Straßenverkäufer boten Holzschmuck und Schnitzereien feil, aber auch Kaffee und Kakao aus Jamaika.
Wir trugen beide schwarze Sporttaschen. Ich fand, wir sahen nicht wie Touristen aus, sondern immer noch wie Polizisten.
Plötzlich hörte ich von hinten eine Stimme rufen und drehte mich um.
Es war einer der jamaikanischen Detectives, John Anthony, der über den Lärm des Flughafens hinweg meinen Namen rief und zu uns gerannt kam. Ein paar Schritte hinter ihm folgte Andrew Jones, der schrecklich verstört aussah.
Jones und Anthony auf dem Flughafen? Was, um Gottes willen, hatte das zu bedeuten? Was konnte schiefgegangen sein?
»Das Wiesel ?«, fragte ich, und es klang wie ein Fluch.
Sampson und ich blieben stehen, um auf die beiden Männer zu warten. Beinahe wollte ich nicht hören, was sie uns zu berichten hatten.
»Sie müssen mit uns zurückkommen, Alex. Kommen Sie«, sagte Jones keuchend. »Es geht um Christine Johnson. Es gibt neue Erkenntnisse. Kommen Sie.«
»Was ist es? Was ist passiert?«, fragte ich Jones und blickte Detective Anthony an, als der Engländer mir nicht gleich antwortete.
Anthony zögerte; dann aber sagte er: »Wir wissen es nicht mit Sicherheit. Vielleicht ist es nichts. Aber jemand behauptet, Mrs. Johnson gesehen zu haben. Sie könnte vielleicht doch hier in Jamaika sein. Kommen Sie mit.«
Ich konnte nicht fassen, was er soeben gesagt hatte. Ich fühlte Sampsons Arm um meine Schultern, aber alles andere erschien mir so unwirklich wie ein Traum.
Es war noch nicht vorbei.
A uf der Straße vom Flughafen berichteten Andrew Jones und Detective Anthony uns alles, was sie wussten. Ich merkte, dass sie sich bemühten, mir keine allzu großen Hoffnungen zu machen. Ich war oft in der gleichen schwierigen Situation gewesen, aber noch nie als Opfer eines Verbrechens.
»Gestern Abend erwischten wir einen kleinen Dieb aus der Gegend, Patrick Moss, beim Einbruch in ein Haus in Ocho Rios«, sagte Anthony, der am Steuer seines Toyota saß, in den wir vier uns gezwängt hatten. »Er habe uns Informationen anzubieten, sagte der Bursche, als Handel sozusagen. Wir erklärten ihm, dass wir erst hören müssten, was er zu sagen hätte, und dann entscheiden würden. Der Kerl erzählte uns, in den Bergen östlich von Ocho Rios würde eine Amerikanerin gefangen gehalten, nahe der Stadt Euarton. Dort hält sich manchmal
Weitere Kostenlose Bücher