Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
die Luft aus. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Brust jeden Moment auseinander platzen. Feuer breitete sich in meinem Innern aus, und es rauschte und pochte laut in beiden Ohren. Mir war schwindlig. Ich spürte, wie ich allmählich das Bewusstsein verlor.
Ich ließ Shafer los, sodass er weiter in die Tiefe sank. Ich hatte keine Wahl. Mein Überlebenstrieb trug den Sieg davon.
Ich musste an die Oberfläche. Ich konnte den Atem nicht mehr anhalten.
In Panik schwamm ich nach oben. Ich glaubte nicht, dass ich es schaffen würde. Die Wasseroberfläche war viel zu weit über mir.
Ich hatte keine Luft mehr.
Dann sah ich Sampsons Gesicht über mir. Nahe, ganz nahe.
Das verlieh mir noch einmal Kraft.
Der schwarzblaue Himmel, an dem nur wenige Sterne zu sehen waren, umrahmte Sampsons Kopf. »Süßer«, hörte ich ihn rufen, als ich endlich auftauchte und gierig Luft holte.
Er hielt mich fest und ließ mich Atem schöpfen, kostbaren Atem. In meinem Kopf drehte sich alles.
Ich ließ den Blick über die Wasseroberfläche schweifen, auf der Suche nach Shafer. Ich war noch zu benommen, um deutlich sehen zu können, doch es war kein Zeichen von ihm zu entdecken. Ich war sicher, dass er ertrunken war.
Langsam schwamm ich mit Sampson zurück an den Strand.
Ich hatte draußen auf dem Meer nicht bekommen, was ich wollte. Es war mir nicht gelungen, die Wahrheit von Shafer zu erfahren. Der Kerl war tot. Ertrunken.
Dennoch schaute ich einige Male zurück, um ganz sicherzugehen, dass Shafer uns nicht folgte, dass er wirklich tot war.
Kein Zeichen von ihm. In der Brandung hörte ich nur das Plätschern unserer Schwimmstöße.
W ir brauchten noch zwei weitere kräftezehrende Tage und Nächte, um die polizeilichen Ermittlungen vor Ort abzuschließen, aber es war gut für mich, ständig auf Trab sein zu müssen.
Ich hatte keine Hoffnung mehr, Christine zu finden oder auch nur zu erfahren, was ihr zugestoßen war.
Mir war bewusst, dass ganz entfernt die Möglichkeit bestand, dass nicht Shafer Christine entführt hatte, sondern irgendein Wahnsinniger aus meiner Vergangenheit. Aber ich widmete diesem Gedanken nicht mehr als einen flüchtigen Augenblick. Ich konnte ihn nicht weiterverfolgen. Sogar für mich war diese Idee zu verrückt.
Ich hatte von Anfang an nicht trauern können; jetzt aber traf mich die grauenvolle Endgültigkeit von Christines Schicksal mit brutaler, voller Wucht. Ich hatte das Gefühl, als hätte man mir die Eingeweide herausgeschnitten. Der ständige dumpfe Schmerz, den ich seit so langer Zeit kannte, wurde zu einem scharfen Stich, der mir in jeder wachen Minute das Herz durchbohrte. Ich konnte nicht schlafen, fühlte mich aber auch nie ganz wach.
Sampson wusste, was mit mir geschah. Es gab nichts, was er hätte sagen können, aber er bemühte sich dennoch um tröstende Worte.
Nana rief mich im Hotel an. Ich wusste, dass Sampson dafür gesorgt hatte, obwohl beide es bestritten. Jannie und Damon kamen ans Telefon, und beide waren süß und lieb und voller Leben und Hoffnung. Sie ließen sogar die Katze Rosie aus der Ferne in den Hörer miauen. Sie erwähnten Christine nicht, aber ich wusste, dass sie ständig in ihren Gedanken war.
An unserem letzten Abend auf der Insel gingen Sampson und ich mit Jones zum Abendessen. Wir hatten uns angefreundet, und schließlich hatte er mir einige Dinge erzählt, die er bisher aus Gründen der Geheimhaltung zurückgehalten hatte.
Er wollte eine Art Schlussstrich unter die Geschichte ziehen, weil er der Ansicht war, dass ich es verdiente.
Nachdem Shafer zum MI6 gekommen war, hatte James Whitehead ihn 1989 rekrutiert. Whitehead selbst unterstand Oliver Highsmith, wie auch George Bayer. Im Laufe der nächsten drei Jahre führte Shafer mindestens vier »Sonderbehandlungen« in Asien durch. Es bestand der Verdacht – der jedoch nie bewiesen werden konnte –, dass er, Whitehead und Bayer auch Prostituierte in Bangkok und Manila ermordet hatten. Diese Morde waren offensichtlich Vorläufer der Jane-Namenlos-Morde und des Spiels der Vier Reiter. Es war einer der schlimmsten Skandale in der Geschichte des Geheimdienstes gewesen. Und man hatte ihn erfolgreich vertuscht. Und so wollte Jones es nun wieder machen. Ich hatte keine ernsthaften Einwände. Es gab bereits mehr als genug politische Skandale auf der Welt.
Gegen elf Uhr beendeten wir unser Abendessen. Jones und ich versprachen uns, in Verbindung zu bleiben. Es gab eine Nachricht, die ein wenig beunruhigend war,
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