Alex Cross 8 - Mauer des Schweigens
, aber mir war das nur recht. Ich streifte ein T-Shirt über, zog alte Shorts an und ging nach unten. In der Küche war noch alles dunkel. Nana war noch nicht aufgestanden. Das überraschte mich.
Nun, sie hatte es verdient, ab und zu mal zu verschlafen. Ich zog meine Laufschuhe an und ging nach draußen, um zu joggen. Auf Anhieb konnte ich den Anacostia River riechen. Nicht gerade der köstlichste Geruch, aber vertraut. Ich hatte mir vorgenommen, an diesem Morgen nicht an Ellis Cooper in der Todeszelle zu denken. Bis jetzt war mir das nicht gelungen.
In den letzten Jahren hatte sich unsere Nachbarschaft sehr gewandelt. Die Politiker und Geschäftsleute würden behaupten, es habe sich zum Besseren verändert. Ich bin nicht so sicher, dass das stimmt. An der 395 South war eine Baustelle, und die Rampe zur Fourth Street war für immer geschlossen worden.
Viele der alten Backsteinhäuser, inmitten derer ich aufgewachsen war, hatte man abgerissen.
Stadthäuser waren entstanden, die für mich eher nach Capitol Hill gehört hätten. Es gab auch eine schicke neue Sporthalle, die Resultate hieß. An einigen Häusern prangten sechseckige blaue ADT-Sicherheitsdienst-Schilder, mit Empfehlung des riesigen Tyco-Konzerns. Manche Straßen wurden gesäubert und herausgeputzt. Aber die Drogendealer trieben sich immer noch umher, besonders wenn man sich nach Süden zum Anacostia hin bewegte.
Hätte man H.G. Wells Zeitmaschinenbrille aufsetzen können, würde man sehen, dass die Planer der ursprünglichen Stadt gute Ideen gehabt hatten. In kurzen Abständen gab es immer wieder einen Park mit klar ausgelegten Wegen und Grasflächen. Eines Tages würden die Bewohner der umliegenden Häuser die Parks zurückerobern, nicht nur die Drogendealer.
Jedenfalls redete ich mir das ein.
Neulich verkündete ein Artikel in der Washington Post , dass einige Leute hier tatsächlich die Dealer schützten. Na ja, manche Menschen glauben, die Dealer täten mehr Gutes für die Gemeinde als die Politiker – zum Beispiel Partys für einen ganzen Wohnblock schmeißen und den Kindern an einem heißen Sommertag Geld geben, damit sie sich ein Eis kaufen können.
Seit ich zehn Jahre alt war, lebe ich hier und werde wohl auch hier bleiben. Ich liebe diese alte Nachbarschaft, nicht nur der Erinnerungen wegen, sondern auch, weil die Zukunft viel Gutes bringen kann.
Als ich von meinem Morgenlauf zurückkam, brannte in der Küche immer noch kein Licht. In meinem Kopf läuteten sämtliche Alarmglocken.
Und ziemlich laut.
Ich ging durch den engen Korridor von der Küche zu Nanas Zimmer, um nach ihr zu sehen.
22
Behutsam drückte ich die Tür auf. Sie lag im Bett. Leise schlich ich ins Zimmer. Die Katze Rosie hockte auf der Fensterbank. Sie miaute leise. Wir hatten keinen Wachhund, aber eine Wachkatze.
Ich ließ die Augen durchs Zimmer schweifen. Das altbekannte Poster mit den Jazzmusikern von Romare Bearden. Es heißt Wrapping It Up at the Lafayette.
Auf dem Schrank waren Dutzende von Hutschachteln. Nanas Hütesammlung für besondere Gelegenheiten würde den Neid einer jeden Hutmacherin erregen.
Plötzlich merkte ich, dass ich Nana nicht atmen hörte.
Meine Muskeln verspannten sich. In meinem Kopf war lautes Dröhnen. Seit ich Kind war, war sie nur ganz selten nicht aufgestanden, um das Frühstück zuzubereiten. Ich hatte Angst wie ein Kind, als ich wie angewurzelt in ihrem Zimmer stand.
O Gott, nein. Bitte, lass das nicht zu.
Als ich näher zu ihrem Bett ging, hörte ich, wie sie sehr flach atmete. Dann schlug sie die Augen auf.
»Alex?«, flüsterte sie. »Was ist los? Warum bist du hier? Wie viel Uhr ist es?«
»Guten Morgen, meine Liebe. Geht’s dir gut?«, fragte ich.
»Ich bin nur ein bisschen müde. Irgendwie fühle ich mich heute Morgen nicht besonders.« Sie blinzelte auf die alte Westcloxuhr auf ihrem Nachttisch. »Sieben? Du meine Güte.
Der halbe Vormittag ist schon vorbei.«
»Möchtest du frühstücken? Wie wär’s mit einem Frühstück im Bett? Auf meine Kosten«, sagte ich.
Sie seufzte. »Ich würde lieber noch ein bisschen schlafen, Alex. Macht es dir etwas aus? Kannst du die Kinder für die Schule fertig machen?«
»Klar. Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«
»Bis später. Mir geht’s gut. Ich bin heute Morgen nur ein bisschen müde. Weck die Kinder, Alex.« Rosie wollte zu Nana ins Bett, aber diese verscheuchte sie. »Hau ab, Katze«, flüsterte sie. Ich weckte die drei Kinder – jedenfalls glaubte ich
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