Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
wußten, daß ich alle drei mit Nachrichten versorgt habe. Als ob… als ob sie nicht gegeneinander, sondern irgendwie miteinander arbeiteten. Warum hat Bagoas mich zu Demaratos geschickt, damit der Korinther vom Verrat des Attalos erfährt? Es hat den Mord an Philipp nicht verhindert, aber es ist doch fast, als ob Bagoas, der den Tod Philipps wünschen mußte, ihn hätte verhindern wollen. Und irgendwie glaube ich, er wußte mehr über das Amulett; was er sagte, klang so, als ob da noch etwas wäre. Aber was?«
Aristoteles breitete die Arme aus; im Zwielicht wurden alle Gebärden zu verschatteten Ungeheuern, die aufflogen und sich nirgends niederließen. » Es klingt so. Ich weiß es nicht, und dies ist keine Lüge, schwarze Göttin der Klänge.– Ich bitte um eines, Dymas. Wenn du– wenn ihr in Asien erfahrt, was hinter allem ist, wo die Fäden zusammenkommen und welches Bild sie ergeben, laßt es mich wissen.«
Tekhnef nickte stumm; Dymas richtete sich auf. » Ich nehme an, du wirst von deinem Neffen Kallisthenes, der bei Alexander ist, mit Nachrichten versorgt werden. Ist er nicht näher am Quell aller Geheimnisse?«
Aristoteles seufzte. » Das Geheimnis ist Alexander. Er ist so viele Menschen… Kallisthenes ist ein guter Schreiber und ein schlechter Menschenkenner; seine spitze Zunge, die er nie zügeln kann, wird ihn eines Tages umbringen, und ich werde demjenigen, der ihn tötet, nicht einmal zürnen können. Mein Neffe sieht, was man ihm zeigt; du, Dymas, und vielleicht noch mehr du, schwarze Göttin, ihr seht, was man vor euch verbergen will. Ich weiß nicht, ob Alexander weiß, welche Finger das Amulett halten, das ja auch seine Mutter trägt, noch, ob er herausfinden will und kann, was das eigentliche Spiel ist. Wenn ihr es erfahrt, und wenn ihr die Erkenntnis überlebt, laßt es mich wissen!«
Pythias hatte lange verkrampft auf dem Schemel gesessen, nahe dem Kopf ihres sterbenden Vaters. Nun stand sie auf, dehnte sich, gähnte und rieb sich die Augen.
» Dieses Nichtstun macht hungrig. Wer von euch möchte etwas?«
Peukestas wickelte das rote Band um die ineinandergedrehten Rollen. Er hatte laut gelesen, hin und wieder durch Bemerkungen oder Erklärungen des Philosophen unterbrochen. Seine Kehle war trocken.
» Hunger weniger– aber ein heißer Wein wäre nicht schlecht.«
» Und du, Vater?«
Aristoteles kehrte aus entfernten Gegenden des Denkens zurück. » Ah– Luft, Pythias. Und warmer Wein, ja. Laß ein wenig Luft herein; ich fürchte, unser junger Freund erstickt.«
Pythias öffnete den Schnurvorhang und löste das Türbrett; Peukestas half ihr, ebenso mit dem Fenster. Kühle, frische Herbstluft drang durch die beiden Öffnungen; der Himmel über dem kleinen Innenhof begann sich grau zu färben. Peukestas atmete tief.
» An einem frühen Herbstmorgen ist etwas in der Welt, das wie Aufbruch schmeckt.« Aristoteles setzte sich auf; mit geschlossenen Augen und weit offenen Nasenlöchern sog er die Frische ein. » Aufbruch, ja. O wie wahr. Aristoteles bricht auf; heute.« Er öffnete die Augen und lächelte Pythias an, die in die Küche ging. Peukestas sah, wie sich ihr Rücken versteifte und der Gang unsicher wurde– nur einen Moment.
» Ich habe immer bedauert, daß die großen Aufbrüche im Frühling stattfinden, meistens jedenfalls. Die Gründe sind klar und vernünftig. Im Winter ist es kalt und naß und stürmisch; nur waghalsige Kapitäne laufen dann aus, und an Land ist man besser daheim aufgehoben. Trotzdem– keine Zeit ist wie ein guter Herbst. Man weiß, was das Jahr des Lebens gebracht oder genommen hat; die Pflanzen und die Erde atmen tiefer und riechen kräftiger. Nicht der süßliche Geruch des Frühlings; es ist der schärfere, reichere Ruch des Herbstes, der uns sagt, daß etwas Neues beginnt und etwas Altes endet. Deshalb habe ich versucht, neue Anfänge im Herbst zu machen. Es ging nicht immer– jedenfalls nicht sofort. Als ich von Athen fortging nach Atarneus, das war im Herbst. Auch der kleine Wechsel von Atarneus nach Mytilene. Dein Vater kam im Herbst zu mir, und mein Entschluß, nach Makedonien zu gehen, nach Mieza, fiel im Herbst, wenn auch der Umzug erst im Frühjahr erfolgen konnte. Als ich Makedonien verließ, um nach Athen zurückzukehren, war es ebenfalls Frühling. Anders als heute, da ich dieses Gefängnis, den alten siechen Leib aufgeben werde.«
Peukestas stand am Fenster, das Gesäß an den Sims gelehnt; die Augen des Philosophen richteten sich auf
Weitere Kostenlose Bücher