Alexander - der Roman der Einigung Griechenlands
Gewißheit, in Asien andere, bessere, lebendigere Musiker finden zu können. Daher hatten sie beschlossen, Athen den Rücken zu kehren und sich entweder gleich nach Asien zu begeben oder zunächst in den Norden, um im Frühjahr auf den Spuren oder im Troß von Alexanders Heer durch den Osten zu ziehen. Dymas schrieb an den Philosophen, der sie daraufhin bat, nordwärts zu reisen und ihn in Mieza oder, falls sie früher kämen, in Stageira aufzusuchen.
Das Nymphaion, in dem bald andere Lehrer die edle Jugend Makedoniens unterrichten würden, eignete sich trefflich als Winterheim. Die Luft war klar und scharf, seltener Schnee eine Erquickung, die Sonne niemals eine Last, und die Gebäude widerstanden gleichermaßen der Hitze wie der Kälte und dem Sturm. Drei Monde lagen nun schon hinter ihnen; aus den langen durchredeten Nächten des Anfangs war eine vorsichtige Freundschaft geworden, in die der Philosoph Tekhnef immer stärker und inniger einschloß. Die kleine Tochter befand sich bereits in Athen, mit den meisten anderen Angehörigen des Haushalts; Aristoteles sprach kaum über seine tote Gemahlin, genoß aber sichtlich die Anwesenheit einer Frau, die nicht Sklavin oder Dirne war.
Dymas griff nach dem Becher mit gewürztem Wein, trank und spuckte irgendein Kraut ins neben ihm stehende Kohlenbecken. » Was ficht dich an? Mangelnde Achtung? Größere Singbarkeit? Fünf Versfüße zum Tanzen statt sechs zum Stolpern? Die Ausmerzung all der grauenvollen Beiwörter, die nicht Homer entsprechen, sondern den Redefiguren seiner Tage?«
Aristoteles grinste. » All das ficht mich an, genau. Mir fehlen die rosenfingrige Eos und derlei. Wer wagt es, sich an Homer zu vergreifen?«
» Als er noch sang, hatte er vielen zugehört, und was er verwenden konnte, hat er genommen. Er hat nicht für Fürsten und Philosophen gesungen, sondern für Dirnen und Kämpfer und betrunkene Seeleute im Piräus. Auch anderen ist es so ergangen wie ihm, und es ist gut, daß gesungene Worte leben und sich verändern. Nur wenn sie auf Ton oder Papyros gefesselt sind, sterben sie, und nur wenn sie tot sind, können Philosophen und andere ihre schändlichen Gelüste an ihnen befriedigen. Vielleicht hat man zu seiner Zeit sagen müssen, die rosigen Finger der Eos streichelten den Himmel; müssen wir nicht heute, da wir an die Morgenröte, nicht aber an Eos glauben, dies nicht– übersetzen? › Ehe die rosichten Finger der Eos den Himmel liebkosten, glitt ein trunkener Sänger von dem erhabenen Pfühle, und es flohen frohlockend aus dem Gehege der Zähne diese geflügelten Worte: Freunde, ich muß mal pissen.‹«
Tekhnef brach in Gelächter aus, Aristoteles wieherte. Dymas kam leicht taumelnd auf die Beine und ging hinaus, sein Wasser an einer Eiche abzuschlagen. Es war eine kalte klare Spätwinternacht; die Wölkchen heißen Harns wurden im Licht des Mondes zu fahlem Gold.
Als er wieder ins Haus trat und sich in den Scherensessel fallen ließ, befragte Aristoteles Tekhnef nach den Sangesbräuchen ihrer Heimat, an die sie sich kaum noch erinnerte.
» Ich war zehn, und was ich vor allem weiß, sind die späteren Dinge. Aufgewachsen bin ich als Sklavin einer Halbhellenin in Ägypten, wie du weißt. Wenn ich in mich horche, höre ich viele Stimmen; die meisten sind hellenisch oder ägyptisch und reden Hellenisch oder Ägyptisch. Dann wurde ich die Gefährtin dieses trunkenen Kitharoden und zog mit ihm durch Hellas und Asien und zu den Inseln. Was sich am Oberlauf des Nils tat, ist mir fremder als die Berge Makedoniens.« Sie lachte leise. » Und nun will er wieder nach Asien, angeblich, um dort neue Musiker zu finden. Ich glaube, mein Gefährte lechzt eher danach, das Gemetzel zu sehen und in eherne Verse zu gießen– fünffüßige Verse, die geflügelt verschweben auf dem Gesang, statt in den Ketten von Tinte und Papyros zu schmachten.«
» Wohl gesprochen, Gespielin des Nachtwinds.« Dymas trank, rülpste, nahm die Kithara und zupfte ein paar Töne, die wie volltrunkene Satyrn durch wirres Geäst zu hüpfen schienen.
Köstlich ist es, den Wein
aus Feindesschädeln zu schlürfen;
köstlicher, unter den Sternen
bei der Liebsten zu liegen.
» Asiens Sterne sind dafür ganz besonders geeignet.«
Aristoteles betrachtete ihn aufmerksam. » Wein aus Feindesschädeln schlürfen– o Musiker: Hast du dies je getan?«
Dymas runzelte die Stirn. » Als geflügeltes Wort genommen: ja. Ansonsten ziehe ich Becher vor.«
» Hast du getötet?«
Dymas
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