Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
wenn ich nicht die Kälte des Treppenhauses gefürchtet hätte. Um halb sieben ging ich unter die Dusche. Um viertel vor wurde es hell am östlichen Horizont, und allmählich hätten meine verschlafenen Töchter auftauchen sollen. Aber sie erschienen nicht. Sie erschienen auch nicht um fünf nach sieben und nicht um zehn nach. Schließlich beschloss ich, sie zu wecken.
»Aus den Federn, ihr Schlafmützen«, rief ich mit gespielter Fröhlichkeit und zog ihnen die Decken weg. »Heute habt ihr mal so richtig verschlafen!«
»Spinnst du?«, fauchte Sarah mich an, nachdem sie sich notdürftig den Schlaf aus den Augen gerieben hatte.
»In einer halben Stunde beginnt der Unterricht!«
»Paps, heute ist Samstag! Du weißt, was das heißt?«
»Ja, ja, die Iva«, krähte Frau Weberlein begeistert. »Die ist eine Nette!«
Heute hatte ich nicht angerufen, sondern war ohne Anmeldung nach Handschuhsheim hinausgefahren, um Muriel Jörgensens nächste Nachbarin zu sprechen. Obwohl es erst neun war, freute sie sich über meinen überraschenden Besuch. Frau Weberlein war zwanzig Jahre jünger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ich hatte eine Kurpfälzer Matrone erwartet, und nun stand eine gut gewachsene, dunkelhaarige und fast hübsch zu nennende Frau von nicht einmal vierzig Jahren vor mir und strahlte mich neugierig an.
»Können Sie mir sagen, wann genau sie verschwunden ist?«
»Ach, schon länger.«
Zu ihren Füßen saß eine lustige Mischung aus Pudel und diversen anderen Rassen, das eine Ohr aufgerichtet, das andere abgeknickt, und betrachtete mich mit unverkennbarer Sympathie. Das musste der Hund sein, den Silke hin und wieder betreute, wodurch der Fall Tim Jörgensen letztlich ins Rollen gekommen war.
»Genauer wissen Sie es also nicht?«
Bekümmert schüttelte Frau Weberlein den Kopf. »Sie hat sich ja auch nicht von mir verabschiedet. Irgendwann hat man halt gemerkt, die Iva, die sieht man gar nicht mehr.«
»Könnte es sein, dass sie gleichzeitig mit Tim verschwunden ist?«
»Du meine Güte!« Das rundliche Gesicht bekam fahle Flecken. »Sie meinen doch jetzt nicht …?«
Sie überlegte einige Augenblicke mit gesenktem Blick »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie dann. »Ich hab grad einen aufgesetzt.«
Wir betraten die Weberleinsche Wohnküche. Den wortkargen Herrn des Hauses hatte ich vorhin nur kurz gesehen, als er sich mit einer Sporttasche zwischen den Füßen auf eine gelbe Vespa setzte und davontuckerte. Ich verzichtete auf den Kaffee, da ich ohnehin schon Herzklopfen hatte vom vielen Espresso. Der Hund wuselte um meine Beine herum und freute sich sehr über die unverhoffte Abwechslung.
»Jupp, jetzt lass aber den Herrn in Ruhe!«, ermahnte ihn die Hausherrin streng und schlug mit der Leine nach ihm.
»Was wissen Sie über Iva?«
»Dass sie eine Nette gewesen ist, ja.«
»Iva ist kein deutscher Vorname.«
»Sie ist ja auch keine Deutsche.«
»Sondern?«
Frau Weberlein knetete ihre Hände in kinoreifer Verzweiflung. »Was soll man denn da jetzt sagen?«
Jupp saß inzwischen fiepend vor mir und schien die Hoffnung aufzugeben, in mir einen neuen Spielkameraden gefunden zu haben.
»Frau Weberlein, es geht mir nicht darum, ob Iva brav ihre Steuern bezahlt hat oder nicht.«
»Aus Slowenien kommt sie, hat sie mir mal erzählt. Die sind ja jetzt auch in der EU seit Neuestem. Und verheiratet ist sie. Ihr Mann, der Ratko, der hat früher auch manchmal drüben geschafft, bei der Frau Jörgensen. Im Garten und am Haus. Mehr so die groben Sachen hat er gemacht. Sie macht sich ja nicht die Hände schmutzig, die Madame.«
»So wie Sie das sagen, glauben Sie aber nicht, dass Iva aus Slowenien stammt, oder?«
Mit gesenktem Blick schüttelte sie den Kopf. »Die haben doch selber genug Arbeit. Die müssen doch nicht zu uns zum Putzen kommen.«
»Sondern?«
»Also, ich denke, sie ist aus dem Osten. Das hört man.«
Ein verschlafenes, vielleicht vierjähriges Mädchen in einem warmen Schlafanzug mit Bärchen betrat barfuß die Küche und musterte mich mit offenem Mund.
»Das ist unsere Chantal«, stellte Frau Weberlein vor. »Unsere Jüngste. Sag dem Herrn guten Tag, Chantal.«
Das Mädchen starrte mich unverwandt aus großen Augen an und verbarg die Hände hinter dem Rücken. Ohne ihre Tochter weiter zu beachten, wandte Frau Weberlein sich wieder mir zu.
»Aber der Ratko, der hat sich mit dem Herrn Jörgensen nicht so gut verstanden. Seit der wieder in Deutschland war, ist er nur noch ein-
Weitere Kostenlose Bücher