Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
hatten. Dennoch war denkbar, dass sie irgendwann das Gefühl übermannt hatte, das Kind stehe im Weg. In einem solchen Fall engagierte man jedoch in ihren Kreisen ein schwedisches Au-pair-Mädchen oder eine spanische Kinderfrau und griff nicht zu Messer oder Plastiktüte.
Ich stand vor meiner Tür, hielt die Klinke schon in der Hand und schüttelte den Kopf. Nein, das war alles Unsinn. Kindermord war etwas für die Unterschicht. Dennoch konnte es nicht schaden, mit diesem Maserati-Fahrer einige Worte zu wechseln.
Als meine Mädchen am Freitagmorgen – wie üblich viel zu spät – vom Frühstückstisch aufsprangen und mit einem zweifach gemurmelten »Tschüssi, Paps« verschwanden, schlug ich die Zeitung auf und vergaß im nächsten Augenblick das Kauen. »Neuer Zeuge entlastet Gundrams Eltern«, knallte es mir in den größten Lettern entgegen, die der Setzerei zur Verfügung standen. Der dazugehörige Artikel war kleiner als die Überschrift und rasch gelesen. Vermutlich animiert durch die sensationell hohe Belohnung hatte sich ein bislang unbekannter Zeuge gemeldet und vor einem Notar eine eidesstattliche Erklärung abgegeben. Der Mann behauptete, Gundram Sander am Nachmittag seines Verschwindens über fünf Kilometer von seinem Elternhaus entfernt gesehen zu haben. Allein, auf der Bundesstraße unterwegs in Richtung Süden. Auch das Rad und der rote Pulli auf dem Gepäckträger wurden erwähnt. Außerdem hatte der Junge angeblich einen Rucksack bei sich gehabt, wovon bisher noch nie die Rede gewesen war.
Ich ließ alles stehen und liegen und machte mich auf den Weg in die Polizeidirektion. Dort trommelte ich meine engsten Mitarbeiter zusammen. Natürlich hatten alle die sensationelle Neuigkeit schon gehört.
»Schaffen Sie mir diesen Zeugen her«, begann ich ohne Einleitung. »Und zwar sofort, wenn’s geht.«
Balke klappte seinen PDA auf, um darin nach irgendwelchen Informationen zu suchen. »Ich schlage vor, wir fangen mit dem Detektivbüro an, das die Sanders beauftragt haben. Ich hab mal die Telefonnummer gecheckt, die die Eltern im Fernsehen angegeben haben. Hier ist es: Detektei Pretorius.« Befriedigt klappte er sein elektronisches Gedächtnis zu. »Diskret, seriös und zielorientiert.«
»In der Zeitung wird ein Rucksack erwähnt …«
Auch Klara Vangelis war stinksauer. »Da sieht man mal wieder, was unsere sogenannten Augenzeugen wert sind! Wenn das stimmt, was der Mann sagt, dann stehen wir wieder völlig am Anfang.«
Ich legte das Gesicht in die Hände.
»Sie beide«, entschied ich nach kurzem Nachdenken, »befragen bitte noch einmal die Eltern und die beiden Augenzeugen. Wir müssen jetzt wohl die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass der Junge nicht entführt wurde und keinen Unfall hatte, sondern schlicht und einfach ausgebüxt ist.«
»Er müsste jetzt irgendwo in Mittelitalien sein«, meinte Balke grinsend. »Falls er Richtung und Tempo beibehalten hat, natürlich.«
Mir war nicht nach Witzen zumute.
»Die Eltern werden nicht begeistert sein über Ihren Besuch. Aber es muss ja schließlich auch in ihrem Interesse liegen, den Verdacht von sich abzuwenden.«
Ich sprang auf. »Und ich knöpfe mir jetzt sofort diesen Detektiv vor.«
René Pretorius war ein smarter Mittdreißiger mit leicht sarkastischem Zug um den Mund, der auch nicht verschwand, wenn er lächelte. Er hatte sofort Zeit für mich, als seine Empfangsdame meinen Namen nannte.
»Eigentlich müsste ich längst auf dem Weg nach Ludwigshafen sein«, erklärte er mir freundlich. »Da droht ein äußerst lukrativer Job von der BASF. Aber wenn schon mal so hoher Besuch kommt …«
Seine offenbar blendend gehende Detektei befand sich in einem repräsentativen Altbau am Adenauerplatz, und so hatte ich nur wenige Minuten gebraucht, um sie zu erreichen. Nicht weniger als fünf Türen hatte ich gezählt, als mich die junge Frau den Flur hinunterführte zum letzten und vermutlich geräumigsten Raum der schönen Altbauwohnung. An den Wänden hing großformatige und mit Geschmack ausgewählte moderne Kunst. Nichts wirkte hier billig oder gar schäbig. Keine Ähnlichkeit mit den versifften Büros amerikanischer Detektive in alten Filmen.
»Nun denn«, sagte Pretorius, nachdem seine Empfangsdame lautlos die schalldichte Tür hinter sich geschlossen hatte. »Wenn wir es vielleicht zügig hinter uns bringen könnten?«
»Ich nehme an, Sie haben meinen Besuch erwartet?«
»Ehrlich gesagt, nein«, entgegnete er, nach wie vor
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