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Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht

Titel: Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Burger
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Töchter anrufen musste. Ich wählte, aber es meldete sich nur ein Unverständliches quakender Anrufbeantworter. So setzte ich seufzend meine Brille wieder auf, ohne die ich in letzter Zeit kaum noch etwas entziffern konnte, und blätterte weiter.
    Frau Sander hatte im Lauf des Nachmittags einige Male nach ihrem Sohn Ausschau gehalten. Als sie gegen fünf wieder einmal auf die Straße trat, war er plötzlich nirgendwo mehr zu finden gewesen. Auch nicht das Rad oder der Kapuzenpulli. Das Seltsame dabei war: Niemand hatte im fraglichen Zeitraum einen fremden Wagen gesehen oder in dem sonntagsstillen Viertel auffällige Geräusche gehört. Niemand schien überhaupt irgendetwas gesehen oder gehört zu haben.
    Der einzige Fremde, der sich nachweislich dort aufgehalten hatte, war ein italienischer Eisverkäufer in seinem kunterbunt bemalten VW-Bus. Giuseppe Domenica war nach eigener Schätzung um zehn nach drei in die Straße eingebogen, wo die Familie Sander wohnte, hatte gebimmelt, in der Wendeschleife eine Weile gewartet, ein zweites Mal gebimmelt und war nach geschätzten fünf Minuten weitergefahren, ohne eine einzige Kugel Eis verkauft zu haben. Auch er hatte Gundram einige Zeit beim Herumkurven zugesehen. Als Klara Vangelis ihn jedoch zwei Tage später befragte, war er sich schon nicht mehr sicher gewesen, da in dem in den Achtziger- und Neunzigerjahren erbauten Viertel eine Straße aussah wie die andere.
    All unsere Suchaktionen, alle Bitten an die Öffentlichkeit um Mithilfe, alle flehenden Aufrufe der Eltern und versprochenen Belohnungen blieben vergeblich. Außer der leider schon ein wenig betagten Nachbarin und dem Eisverkäufer fanden wir keinen einzigen ernst zu nehmenden Zeugen.
    Ich nahm das Foto noch einmal zur Hand. Der kleine Gundram war flachsblond und schmal. Ernst, aufmerksam und ein wenig zu schüchtern für einen Erstklässler in spe blickte er in die Kamera. Keine Spur von Stolz auf das funkelnde Rad. Das Ganze sah eher nach Pflichtübung aus. Gundi, komm doch mal eben, der Papi will ein Foto machen. Nun freu dich doch. Jetzt lach halt mal. Aber Gundram hatte sich offensichtlich nicht gefreut.
    Jungs in seinem Alter halten sich nicht immer an Vorschriften. Mädchen übrigens auch nicht, ich spreche aus Erfahrung. Irgendwann packt jeden gesunden Jungen die Abenteuerlust. Die Sehnsucht, zu wissen, wie es sich jenseits des Horizonts der Verbote anfühlt. Was geschieht, wenn man die magische Grenze passiert, einfach weiterfährt, vielleicht sogar bis zur Bundesstraße, wo die großen Laster vorbeibrausen. So unglaublich laut und schnell, dass es einem die Haare ins Gesicht weht. Wo es tausendmal spannender ist als im immergleichen Einerlei eines Viertels voller mehr oder weniger gleich aussehender Einfamilienhäuser und zum Sterben langweiliger Erwachsener.
    Falls es sich so abgespielt haben sollte, dann hätte irgendjemand den Jungen außerhalb seines Reviers sehen müssen. Natürlich waren an dem heißen Nachmittag nicht allzu viele Menschen auf den sonnenglühenden Straßen. Natürlich achtete nicht jeder auf ein vorbeiradelndes Kind. Aber der eine oder andere schon. Mütter und Großmütter zum Beispiel. Irgendwer findet sich am Ende immer.
    Nicht jedoch im Fall Gundram Sander.
    Jenseits der Wendeschleife führte ein schmaler Fußweg in ein kleines, aber unübersichtliches Waldgebiet. Ging man dort weiter, dann landete man überall und nirgends. Wenn man wollte, dann konnte man über Feld- und Waldwege Dutzende von Kilometern zurücklegen, ohne einen Ort zu passieren. Meine Leute hatten das Gelände im Umkreis von zehn Kilometern abgesucht. Zunächst mit Hunden, später mithilfe eines Helikopters, der mit Infrarotkameras ausgerüstet war.
    Das Telefon schreckte mich auf. Sönnchen.
    »Da ist eine Dame in der Leitung. Es geht um den Jungen, sagt sie.«
    »Schicken Sie sie zu Vangelis.«
    »Sie will aber unbedingt mit Ihnen …«
    »Wer ist es?«
    »Das will sie nicht sagen.«
    »Okay«, ich nahm die Brille wieder ab, »dann stellen Sie durch.«
    Es kam vor, dass Zeugen nur mit mir, dem Kripochef persönlich, sprechen wollten. Sei es, weil sie fürchteten, was sie zu sagen hatten, würde sonst nicht gebührend gewürdigt, vielleicht auch nur, weil sie sich endlich einmal richtig wichtig fühlen wollten.
    Die Anruferin sprach mit selbstbewusstem und leicht schnippischem Tonfall. Und sie klang nicht, als wäre sie Widerspruch gewohnt.
    »Ich denke, was ich zu sagen habe, wird Sie sehr

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