Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
Sie hat den armen Jungen ja auch früher nicht so oft rausgelassen. Aber vor ein paar Tagen ist mir aufgefallen, dass man ihn in letzter Zeit überhaupt nicht mehr sieht. Ich hab auch schon ein bisschen rumgefragt. Keiner in der Nachbarschaft hat den Tim gesehen in den letzten Wochen.«
»Haben Sie auch mit den Eltern darüber gesprochen?«
»Mit denen red ich nicht. Und da ist sowieso nur noch die Mutter, und mit der red ich gleich zweimal nicht. Der Mann ist nämlich ausgezogen. Und jetzt sitzt sie allein mit ihrem alten Vater in ihrem Riesenhaus und kann sehen, wo sie bleibt.«
»Vielleicht ist Tim ja einfach nur krank?«
»Möglich. Aber fragen müssen Sie schon selber. Sie ist nämlich eine furchtbar eingebildete Schnepfe, die Frau Jörgensen.«
»Gibt es sonst jemanden in der Nachbarschaft, der engeren Kontakt mit Tims Mutter hat?«
»Die kann hier keiner leiden. Wir machen hier jedes Jahr im Juli ein Straßenfest. Seit Ewigkeiten gibt’s das schon. Alle helfen und backen irgendwas oder stellen einen Grill auf oder machen wenigstens Musik. Nur die Jörgensens, die lassen sich nie blicken. Halten sich für was Besseres, und dabei ist der alte Gernhardt auch bloß ein kleiner Maurer gewesen, bevor er damals seine Baufirma aufgemacht hat. In letzter Zeit ist er ja nicht mehr ganz richtig im Kopf. Den sieht man sowieso nicht mehr.«
Ich nahm den Hörer ans andere Ohr, um nicht einseitig zu ertauben. Dadurch entging mir die erste Hälfte ihres nächsten Satzes.
»… fünfundneunzig ist er im Frühjahr geworden.«
»Aber irgendwelche Kontakte zur Außenwelt muss Frau Jörgensen ja wohl haben.«
»Also, ich kenn jedenfalls keinen, der was mit der zu tun haben will. Ihr Mann wird schon seine Gründe haben, warum er sie hat sitzen lassen.«
Am Abend ließ sich auch das Ehepaar Sander wieder einmal im Fernsehen bestaunen. Kein Wunder, dass die Redaktionen sich um diese Leute rissen. Die attraktive Mutter mit dezent verweinten Augen und heute leicht brüchiger Stimme, bei der plötzlich wieder der osteuropäische Akzent durchschimmerte. Daneben der durchtrainierte und braun gebrannte Vater mit grimmig-empörter Miene und mahlendem Kiefer. Wieder einmal war vom Versagen der Polizei die Rede. Und nun also auch noch dieser unerhörte Verdacht gegen sie. Als wäre ihr Leben nicht schon schwer genug. Aber zum Glück gebe es ja nun diese neue Zeugenaussage, die sie entlaste.
Zu meiner Verwunderung wurde auch hier mit keinem Wort erwähnt, dass diese im richtigen Moment aufgetauchte Aussage bei uns verloren gegangen war. Hatte Pretorius – aus welchen Gründen auch immer – diese Information nicht an die Eltern weitergegeben? Hielt er sie zurück, um ein Druckmittel gegen mich in der Hand zu behalten?
Über achtzig Prozent aller Anrufe, die am Tag nach Gundrams Verschwinden die Telefonzentrale der Polizeidirektion erreicht hatten, waren bereits am nächsten Tag, einem Freitag, abgehakt. In den meisten Fällen existierte eine Telefonnotiz über das, was gesagt worden war. In den anderen Fällen hatte Balke zurückgerufen und nachgefragt. Nun kam der schwierige Teil. Anrufe von nicht registrierten oder als gestohlen gemeldeten Handys oder aus Telefonzellen. Anrufe von Personen, die nicht erreichbar waren oder abstritten, jemals die Nummer der Heidelberger Polizei gewählt zu haben.
Jeder, der an jenem Montag Dienst gehabt hatte, war inzwischen zur Sache befragt worden. Viele hatten sich zur Auffrischung ihrer Erinnerung die Aufzeichnung des Interviews mit dem unbekannten Zeugen angesehen und seiner verzerrten Stimme gelauscht. Aber niemand konnte sich erinnern, den Mann schon einmal gesprochen zu haben.
Wegen der Entführung war die Menge der Anrufe damals dramatisch in die Höhe geschnellt. Ungezählte Spaßvögel, Wahrsager und Verrückte hatten sich gemeldet. Dazu die üblichen Selbstbezichtiger, die in solchen Fällen immer anriefen und um ihre Verhaftung ersuchten. An mindestens zwanzig verschiedenen Stellen im Großraum Heidelberg war Gundram gesichtet worden. Mit Fahrrad und ohne. In Begleitung eines gepflegten älteren Herrn oder einer verlotterten und bestimmt drogensüchtigen jungen Frau. An der Hand einer Zigeunerin, im Bentley eines blonden jungen Mannes, der wie verrückt Pfeife rauchte, weinend hinter dem nie ordentlich geputzten Küchenfenster eines verhassten Nachbarn.
Ansonsten ereignete sich an diesem Freitag nichts Erwähnenswertes. Als ich abends nach Hause radelte, war es schon halb
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