Alexander Gerlach - 05 - Echo einer Nacht
keine Rede davon, dass er all dies schon am Tag nach Gundrams Verschwinden der Polizei mitgeteilt habe.
Der Zeuge schien mittleren Alters zu sein und aus der näheren Umgebung Heidelbergs zu stammen, soweit ich das als Nicht-Kurpfälzer beurteilen konnte.
Die Journalistin, die das Interview führte, zog am Ende die richtigen Schlüsse. »Der jüngst aufgekommene Verdacht gegen die Eltern dürfte hiermit aus der Welt sein«, erklärte sie mit ernster Stimme und bedeutendem Blick in die Kamera.
Den Anruf bei der Redaktion ersparte ich mir. Dort würde man mir eine Nase drehen und sich auf das Recht der Presse auf Quellenschutz herausreden, und dann konnte ich gegen die Leute klagen bis zum Jüngsten Gericht.
Stattdessen rief ich Vangelis und Balke zu mir. Zusammen sahen wir uns die Aufzeichnung noch dreimal an.
»Er stammt aus der Gegend«, meinte Vangelis mit schmalen Augen. »Nördliche Kurpfalz, würde ich sagen. Vielleicht Schriesheim oder Hirschberg.«
Klara Vangelis, in Griechenland gezeugt und in Deutschland geboren, war die Einzige unter uns, die in der Kurpfalz aufgewachsen war und deshalb die feinen Unterschiede der Dialekte hörte.
»Und sein komischer Anzug ist ihm zwei Größen zu eng«, stellte Balke mürrisch fest. »Stammt vermutlich noch von seiner Konfirmation.«
»Dieser Schnitt mit den langen Revers ist in den Achtzigerjahren aus der Mode gekommen«, ergänzte Vangelis, die einen Blick für so etwas hatte. »Insgesamt ist der Mann eher Unterschicht.«
Balkes Handy brummte.
»Was halten Sie davon, wenn wir einen Aufruf veröffentlichen?«, fragte er, während er das Gerät aus der Tasche seiner Jeans fingerte, aufklappte und stirnrunzelnd eine SMS überflog, um sie anschließend sofort zu löschen. »Wir können ihn doch einfach ganz freundlich bitten, sich bei uns zu melden.«
»Das wird er nicht tun«, erwiderte ich. »Da passt dieser Privatschnüffler schon auf. Außerdem würden wir uns durch einen solchen Hilferuf nur noch mehr blamieren. Nein, es hilft alles nichts: Wir müssen diese Aussage finden. Wenn er sich wirklich bei uns gemeldet hat, dann muss irgendwo im Haus ein Protokoll existieren. Oder wenigstens eine Telefonnotiz.«
Mit einer süßsauren Grimasse ließ Balke das Handy wieder verschwinden.
»In diesem Gebäude dürfte es einige zehntausend Ordner geben«, warf Vangelis ein. »Bis wir die alle durchgeblättert haben …«
»Und wenn das Ding aus Versehen in der Rundablage gelandet ist, dann ist es sowieso Asche.« Balkes Laune hatte sich durch die SMS dramatisch verschlechtert. Sollte er etwa immer noch Ärger mit seiner Nicole haben, die er im Sommer Knall auf Fall vor die Tür gesetzt hatte? Damals hatte ihm eine äußerst hartnäckige Verehrerin nachgestellt, und Nicole hatte ihm partout nicht glauben wollen, dass er die Frau kaum vom Sehen kannte. Seit er wieder allein lebte, erschien er öfter übernächtigt und unrasiert zum Dienst.
»Ich gehe davon aus, dass der Mann hier angerufen hat«, überlegte ich. »Die wenigsten kommen persönlich vorbei, um eine Aussage zu machen. Wenn Sie über die Befragung der Kollegen nicht weiterkommen, dann lassen Sie alle Anrufe zurückverfolgen, die am sechsten August eingegangen sind. Im ersten Schritt überprüfen Sie alles, was über die Zentrale ging. Sollten wir ihn so nicht kriegen, dann nehmen Sie sich die Durchwahlnummern vor.«
»Autsch«, stöhnte Balke augenrollend. »Das gibt Arbeit!«
Als ich wieder allein war, versuchte ich zum dritten Mal, die Nachbarin des angeblich verschwundenen Tim zu erreichen. Dieses Mal wurde zu meiner Überraschung nach dem ersten Klingeln abgenommen.
»Weberlein?«, kreischte mir eine etwas ordinär klingende Frauenstimme ins Ohr.
»Gerlach, Kripo Heidelberg.«
Ihre Stimme wurde noch eine Spur dissonanter. »Ist der Horst etwa schon wieder zu schnell gefahren?«
»Nein. Es geht um ein Kind aus Ihrer Nachbarschaft.«
Sie wurde mehrere Grade leiser. »Der kleine Tim, ach so. Schön, dass sich mal wer um das arme Kind kümmert.«
»Ich habe gehört, Tim sei verschwunden.«
»Das stimmt.«
»Seit wann?«
»So genau weiß ich das nicht. Aber ein paar Wochen ist es schon her, dass ich den Tim zum letzten Mal gesehen hab.«
»Sagten Sie: Wochen?«
Bisher war ich davon ausgegangen, dass der Junge – wenn überhaupt – erst seit wenigen Tagen nicht mehr gesichtet wurde. Und zwar, weil er vermutlich krank im Bett lag oder aus einem anderen, völlig banalen Grund.
»Wochen, ja.
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