Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Überreste mit dem Gesicht nach unten im Straßengraben gelegen hatten, fand ich innerhalb von Sekunden mithilfe des Internets heraus. Während des Gesprächs mit de Brune hatte ich Leas Foto betrachtet, das an meinem Aktenlocher lehnte. Die dunklen, für ihr Alter ein wenig zu ernst blickenden Augen, das lange, glatte und fast schwarze Haar, die schlanke Figur. Lea war ein wenig fülliger als meine Töchter, immerhin war sie auch fast zwei Jahre älter. Fraulicher. Reifer.
Ich beschloss, Leas Vater anzurufen, sobald er wieder zu Hause war, und nach der Blutgruppe seiner Tochter zu fragen.
8
Um Punkt zwölf Uhr surrte mein Handy.
»Dellnitz«, hörte ich die Stimme von Hennings Mutter. »Ich sollte Sie anrufen, wenn er sich bis Mittag nicht gemeldet hat.«
»Wir versuchen als Erstes eine Handyortung«, hatte ich mir in der Zwischenzeit überlegt. »Dazu brauche ich eine formlose Einverständniserklärung von Ihnen.«
Ich diktierte ihr die Nummer des Faxgeräts in meinem Vorzimmer, und zwei Minuten später lag die handgeschriebene Einwilligung vor mir. Ich bat Sönnchen, alles Notwendige in die Wege zu leiten.
»Sie hat übrigens heut Geburtstag«, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit.
»Wer?«
»Leas Mama. Heut wäre sie vierzig geworden. Jan hat auf den Grabstein geguckt.«
Um halb zwei griff ich zum Telefon, aber bevor ich Lassalles Nummer wählen konnte, rief er selbst an.
»Bei mir ist eingebrochen worden«, verkündete er heiser und mit trotz seines Cognacpegels erstaunlich nüchterner Stimme. »Eben komme ich nach Hause, und da sehe ich, dass wer durchs Kellerfenster eingestiegen ist!«
»Haben Sie schon überprüft, ob etwas fehlt?«
»Gar nichts habe ich überprüft. Ich bin ja gerade erst reingekommen.«
»Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen«, sagte ich. »Fassen Sie bitte nichts an.«
Während der Fahrt überlegte ich, ob vielleicht die Kellertürenbande wieder zugeschlagen hatte. Aber das wäre wohl ein wenig zu viel Zufall gewesen.
Lassalle erwartete mich mit ausdrucksloser Miene an der Haustür.
»Ich habe mich schon ein bisschen umgesehen«, sagte er beim flüchtigen Händedruck. »Soweit ich es überblicke, fehlt nichts.«
Das zerschlagene Kellerfenster hatte ich schon von außen entdeckt. Es befand sich an der Seite des Hauses und war von der Straße aus nicht ohne Weiteres zu sehen.
»Waren Sie auch schon in Leas Zimmer?«
Er nickte so zögernd, als wäre ihm plötzlich ein abwegiger Gedanke gekommen. »Da ist ja nichts zu holen«, murmelte er zerstreut. »Außer einem Haufen DVDs, bergeweise Klamotten und Schulbücher. Wieso sollte da einer einbrechen?« Er sah mir ins Gesicht. »Nein. Bei Lea habe ich noch nicht nachgesehen.«
»Geld, Schmuck, Wertsachen?«, fragte ich weiter, während wir den Wohnraum betraten, der mir noch kälter vorkam als am Sonntag.
Lassalle hatte seine kurze Verwirrung überwunden und sah mir gerade in die Augen. »Sogar das alte Silberbesteck von meiner Großmutter ist noch da, das ich nie benutze. Und das dürfte so ziemlich das Einzige von Wert sein, was Sie hier finden. Außerdem …« Mit einer knappen Geste wies er um sich. »Sieht das hier nach Einbruch aus?«
Seine Alkoholfahne hatte ich bereits beim Händeschütteln gerochen. Nach dem Bericht meines Hobbydetektivs Jan musste Lassalle inzwischen mehr als einen halben Liter Cognac intus haben. Ein weniger geübter Trinker hätte sich kaum noch auf den Beinen halten können.
Ich sah mich um. Zumindest im Wohnzimmer gab es tatsächlich keine Spuren von hastiger Suche nach Wertgegenständen. Alles stand an seinem Platz. Sämtliche Schubladen waren ordentlich geschlossen. Die wenigen und meist geschmacklosen Bilder hingen gerade an der Wand.
»Gibt es im Keller Spuren? Fußabdrücke? Aufgebrochene Türen?«
»Unten war ich noch nicht. Ich dachte, ich warte, bis Sie da sind.«
Lassalle roch nicht nur nach Schnaps, sondern auch, als trüge er das karierte Hemd schon seit Tagen. Gemeinsam stiegen wir die steile Kellertreppe hinab. Unten befand sich eine graue Tür, die nicht verschlossen war. Lassalle deutete meinen Blick richtig.
»Hier wird nichts abgeschlossen«, brummte er. »Außer Leas Zimmer, natürlich. In diesem Punkt ist sie wie alle Teenager – elternfreie Zone.«
Er machte Licht, es ging durch eine weitere graue Tür, die so stark klemmte, dass er mit beiden Händen zupacken musste. Geruch nach Petroleum und Schimmel strömte uns entgegen. Wir betraten eine Art Rumpelkammer voller
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