Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
übel. Madame Cabrel schien alle Zeit und Geduld der Welt zu haben.
Endlich klingelte mein Handy.
»Sie hat ein Muttermal auf dem linken Schulterblatt, sagt Samantha. Sieht aus wie ein kleiner Teddybär, dem man das eine Ohr langgezogen hat. Außerdem hat sie ein Tattoo am Po. Nicht so ein Arschgeweih, bloß einen kleinen Schmetterling. Samantha hat es mal beim Duschen nach dem Sportunterricht gesehen und fand es witzig.«
Glücklicherweise hatte die Professorin Fotos auf ihrem Laptop, sodass ich nicht noch einmal hineinmusste.
Die Schulterblätter der weiblichen Leiche, die nebenan im Kühlraum lag, waren makellos.
12
Schweigend quälten wir uns bei dichtem Regen und starkem Verkehr aus der Stadt heraus. Zu allem Elend verfuhr ich mich auch noch rettungslos, während ich bei der Herfahrt die gesuchte Adresse zu meiner eigenen Überraschung problemlos gefunden hatte. Wieder einmal fragte ich mich, ob ich mir nicht doch allmählich eines dieser neumodischen Geräte anschaffen sollte, die mir meine Töchter ständig ans Herz legten, weil heute angeblich jeder so was hatte. Endlich tauchte in Regenschlieren und Nebeldunst ein blauer Wegweiser mit der Aufschrift »Offenburg« auf. Bald darauf waren wir auf einer vierspurigen Straße, die aussah, als führte sie geradewegs ins Nirgendwo.
Schweigend überquerten wir den Rhein. Schweigend brachten wir die endlosen Baustellen zwischen Offenburg und Baden-Baden hinter uns. Als wir Karlsruhe passierten, war es halb drei und fast völlig dunkel. Inzwischen regnete es, was die Wolken hergaben. Dann standen wir wieder. Siebzehn Kilometer Stau, meldete das Radio. Vollsperrung wegen eines Unfalls bei Bruchsal, weil irgendein Idiot einige Sekunden früher hatte zu Hause sein wollen. Ein Idiot, der nun vielleicht nie wieder nach Hause kommen würde. Wütend drosch ich mit beiden Händen aufs Lenkrad.
»Es war Jasmin«, hörte ich Lassalle plötzlich sagen. »Sie hat … Sie war … verrückt. Und sie hat Lea verrückt gemacht.«
Ich überlegte, ob ich etwas fragen sollte, und entschied mich zu schweigen. Der Regen hämmerte aufs Autodach, und es dauerte fast fünf Minuten, bis der nächste Satz aus Lassalles Mund kam.
»Jasmin.« Er hatte die Augen geschlossen, den Kopf gegen die Nackenstütze gelegt. »Anfangs haben wir uns wahnsinnig geliebt. Wahnsinnig. Aber mit der Zeit hat sie sich verändert. Mit Leas Geburt hat es angefangen, glaube ich. Sie ist eifersüchtig geworden. Erst war es noch lustig. Es schmeichelt einem ja auch. Aber bald war sie eifersüchtig auf alles. Auf meine Sekretärin. Auf eine Nachbarin. Auf meine Arbeit. In Chemielabors laufen nun mal eine Menge Laborantinnen herum, und die sind nicht alle alt und hässlich. Es wurde immer schlimmer. Lea ist in den Kindergarten gekommen, und Jasmin hat allein zu Hause gesessen und sich vorgestellt, wie ich mir irgendein junges Hüpferchen vom Labortisch pflücke und ins nächste Hotel schleppe. Und soll ich Ihnen was sagen?« Böse starrte er mich an. »Zwei, drei Mal habe ich das sogar gemacht. Aber das hat Jasmin nie erfahren. Sie hätte mich umgebracht. Oder sich. Aber vielleicht hat sie es ja trotzdem gewusst. Frauen spüren so was, sagt man. Später haben wir uns einen Hund angeschafft. Der hat sie ein wenig abgelenkt. Für ein paar Monate war es fast wieder gut.«
Die Autoschlange vor uns begann sich ruckelnd zu bewegen. Einige Hundert Meter ging es voran. Dann standen wir erneut. Der Regen schien nie wieder aufhören zu wollen. Das Radio behauptete, der Stau sei inzwischen auf zwanzig Kilometer angewachsen. Die Vollsperrung dauerte immer noch an. Wegen des Wetters konnte der Rettungshubschrauber nicht zum Einsatz kommen.
»Wie Lea dann in die Pubertät kam …«, murmelte Lassalle mit längst wieder geschlossenen Augen. »Wie ihr die ersten Anzeichen von Busen gewachsen sind, da … ich weiß auch nicht … da brach die Hölle los. Jasmin hat endgültig den Verstand verloren. Dabei habe ich sie doch immer noch geliebt und sie mich auch. Irgendwie. Dann hat sie geweint und sich entschuldigt und war zärtlich bis zur Verzweiflung … In den Phasen dazwischen war es der reine Krieg. Am Ende hat sie mich allen Ernstes verdächtigt, Lea … missbraucht zu haben. Was für ein Irrsinn. Sie … es war nicht mehr zu ertragen. Sie hat mich ganz offen bezichtigt, unsere Tochter unsittlich zu berühren und was weiß ich noch alles. Irgendwann haben sie sogar im Labor angefangen zu flüstern. So was spricht sich
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