Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Kabinettssitzung beginnen sollte. Es regnete ein wenig. Der Mann, der mich interessierte, stand etwa einen Meter rechts hinter dem Minister. Er trug einen perfekt sitzenden anthrazitfarbenen Anzug zu gelber Krawatte und blickte entschlussfreudig in die Kamera. Zu tun oder zu sagen hatte er nichts.
»Und?«, fragte Yvonne Ehling aufgedreht. »Was denken Sie?«
»Er könnte dem Mercedesfahrer zufällig ähnlich sehen.«
»Er ist es! Ich bin mir absolut sicher!«
Ich konnte ihre Begeisterung nicht teilen. Das Ganze schien mir doch ein wenig weit hergeholt. Ein Politiker aus Berlin, Mitglied des Bundestags und Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, der sich zufällig in Heidelberg aufhielt, dort zufällig eine gewisse Lea kennenlernte, die wahrscheinlich zwanzig Jahre jünger war als er und gewiss nicht in seinen Kreisen verkehrte. Zudem liefen Vertreter dieses Männertyps zu Hunderttausenden in Deutschland herum. Bankmanager, Unternehmensberater, Playboys. Und alle sahen sich zum Verwechseln ähnlich …
»Er stammt aus Bad Rappenau«, wiederholte meine eifrige Hilfsermittlerin, der meine Zweifel natürlich nicht entgingen. »Also quasi um die Ecke. Und sein Wahlkreis ist Heidelberg. Er ist oft hier und hat sogar ein Wahlkreisbüro am Karlsplatz.«
»Das klingt natürlich alles sehr interessant …«
»Ja, nicht wahr? Und er fährt wirklich einen großen Mercedes. Ich habe bei Google Bilder gefunden …«
»Welche Farbe?«
»Silber.«
»Der Mann, den wir suchen, fährt einen braunen.«
Sie schloss den lippenstiftroten Mund, schluckte, sah mich verunsichert an. Ich hob ratlos die Achseln.
»Denken Sie, er hat dem Kind was angetan?«, fragte sie in verändertem Ton und leiser als zuvor. »Oder wieso sind Sie sonst hinter ihm her?«
»Ich bin nicht hinter ihm her«, erwiderte ich müde. »Aber das Mädchen ist verschwunden, und falls Sie wider Erwarten recht haben sollten, dann ist er einer der letzten Menschen, die sie gesehen haben.«
»Spannend!«, fand sie und rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Kann ich sonst noch irgendwas …?«
»Im Moment nicht. Wir bleiben in Verbindung, okay?«
Sie federte hoch mit der Energie eines Menschen, der viel für seinen Körper tut, und streckte mir strahlend ihre schmale Hand entgegen. Ihre Enttäuschung war schon wieder verflogen. Und ihr Händedruck sprach für zupackende Entschlussfreudigkeit.
Eine Viertelstunde später rief ich Sven Balke und Klara Vangelis zu mir.
Vangelis schien die Pleite mit dem braunen Mercedes noch nicht ganz verdaut zu haben. Balke dagegen leuchtete die Neugier aus den Augen.
»Was jetzt kommt, bleibt unter uns«, begann ich. »Vorläufig darf niemand davon erfahren.« Ich sah Balke an. »Nicht mal Ihre Evalina.«
»Hui!« Balke grinste andächtig und rückte näher.
Wenn es etwas gab, was ihm in seinem Job wirklich Freude bereitete, dann war es, am Lack wichtiger Leute zu kratzen. Ich erzählte von Carsten Gröwer und dessen eventueller Rolle im Fall Lea Lassalle.
»Bisher haben wir nicht mal einen Verdacht. Das Einzige, was wir haben, ist die Aussage einer Zeugin, vergessen Sie das bitte keine Sekunde.«
»Sein Wagen hat die falsche Farbe«, warf Vangelis knurrig ein. »Wir suchen einen braunen.«
»Das tun wir natürlich weiterhin«, erwiderte ich. »Aber auch bei der Farbe des Mercedes stützen wir uns nur auf Zeugenaussagen.«
Balkes Interesse wuchs mit jedem meiner Worte. Insbesondere, weil Dr. Gröwer Mitglied einer Partei war, die er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Zudem zählte der Staatssekretär zu exakt der Sorte Karrierepolitiker, die er verabscheute. Dynamisch, smart, frei von Selbstzweifeln, Skrupeln oder gar Überzeugungen – und zu alledem auch noch Mercedesfahrer.
Vangelis hörte mit säuerlicher Miene zu und machte sich hin und wieder mit ihrer winzigen Handschrift Notizen in ihrem kleinen ledergebundenen Buch.
»Und nun?«, fragt Balke tatendurstig, als mein kurzer Bericht zu Ende war. »Wie packen wir ihn?«
»Erst einmal packen wir gar nichts. Erst einmal beschaffen Sie mir bitte alles an Informationen über diesen Staatssekretär, was Sie auf legalem Weg beschaffen können.«
»Mit ›legal‹ meinen Sie richtig legal?«
»Genau so meine ich das. Niemand darf erfahren, dass wir uns für ihn interessieren. Wenn das schiefgeht, dann kommen wir alle drei in die Hölle. Und zwar in eine der untersten Etagen.«
»Es schneit«, sagte Vangelis mit missmutigem Blick zum
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