Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
diesem Vormittag keine Ruhe, obwohl Sönnchen Weisung hatte, nur dringende Gespräche durchzustellen. Nach Absprache mit Liebekind blieben wir in Deckung. Wir ermittelten nicht gegen Gröwer. Wir hatte nichts mit dieser merkwürdigen Geschichte zu tun. Wir hörten den Namen heute praktisch zum ersten Mal. Punkt.
Es schien zu funktionieren. Das Gewitter schien vorbeizuziehen.
In den ZDF-Nachrichten um zwölf Uhr wurde zum ersten Mal der Verdacht geäußert, Gröwers angebliche Gespielin könnte in seinem Wahlkreis Heidelberg beheimatet sein. Kurz darauf wurde die Pressekonferenz erneut verschoben – auf fünfzehn Uhr. Noch vor diesem Termin tauchte der Name zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf: Lea L. Noch mit Fragezeichen.
Im Lauf des Nachmittags hörte man auch erste hämische Kommentare in den Medien. Es sei mit der Solidarität von Gröwers Parteifreunden vielleicht doch nicht so weit her. Er habe wohl auch innerhalb seiner Partei Feinde. Konkurrenten, die er im Zuge seiner vielleicht etwas zu flotten Karriere ausmanövriert habe. Menschen, die nur darauf gewartet hätten, ihm ein Bein zu stellen.
Auch der dritte Termin für die Pressekonferenz wurde abgesagt. Gröwer schien inzwischen völlig kopflos zu agieren. Um sechzehn Uhr dreißig veröffentlichte er endlich eine knappe Stellungnahme, in der er so gut wie alles falsch machte, was er falsch machen konnte. Er stritt ab, jemals eine Beziehung zu einer Minderjährigen unterhalten zu haben. Er stritt ab, eine Lea L. zu kennen. Er sei seit Jahren verheiratet und ein treuer Ehemann. Gröwer beschimpfte die Medienleute und Kommentatoren, unterstellte ihnen Rufmordabsichten und durchsichtige Motive, woraufhin die Hunde natürlich erst recht Appetit entwickelten. Er verwies darauf, dass sein Sexualleben seine Privatsache sei, womit er genau das Gegenteil dessen erreichte, was er bezweckt hatte. Wenn jemand so aggressiv reagierte, dann musste es da ja wohl etwas zu verbergen geben. Und wer konnte wissen, ob die junge Dame, die zu kennen Gröwer so auffallend heftig abstritt, wirklich schon volljährig war?
Von nun an kamen die dpa-Meldungen im Viertelstundentakt, und Carsten Gröwers große politische Karriere löste sich in atemberaubender Geschwindigkeit in nichts auf. Abends um halb acht ließ Gröwers Frau erklären, sie habe immer gewusst, dass ihr Carsten ein lebensfroher Mensch sei, ihm jedoch seine Freiheit gegönnt. Man führe eine moderne Ehe, und sie stehe nach wie vor zu ihm.
In der Tagesschau gingen die ersten sogenannten Parteifreunde auf Distanz. Offenbar hatte es schon am Nachmittag hektische Gespräche hinter verschlossenen Türen gegeben. Teils mit Gröwers Beteiligung, meist jedoch ohne ihn. Angelina Ferrini gab RTL ein Interview, von dem Balke meinte, es bringe ihr mindestens fünfzigtausend ein. Immer mehr abgelegte Geliebte tauchten auf, die auch ein Stückchen vom unverhofften Segen abhaben wollten, und gaben ihren mehr oder weniger schlüpfrigen Senf zu der Geschichte.
Um einundzwanzig Uhr fünfzehn erfuhr die Welt endlich, Dr. Carsten Gröwer nötige seine Gespielinnen gerne in Klein-Mädchen-Rollen und züchtige willige Bettgenossinnen mit Holzlinealen, bevor er sie mehr oder weniger brutal vergewaltige. Ab zweiundzwanzig Uhr war in den Nachrichten aller Fernsehkanäle zu erfahren, Gröwer konsumiere regelmäßig Drogen.
Anderthalb Stunden nach Mitternacht war er tot.
Aber das erfuhr ich erst am nächsten Morgen. Am Dienstag, dem zwanzigsten Dezember. Zwei Wochen und vier Tage nach Leas Verschwinden.
23
Carsten Gröwer hatte auf der Überholspur gelebt und war auf der Standspur gestorben. Er war mit unbekanntem Ziel und hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn A12 in Richtung Osten unterwegs gewesen, aus unbekannten Gründen von der Fahrspur abgekommen und ungebremst gegen einen auf dem Standstreifen abgestellten und ordnungsgemäß gesicherten Lkw aus Weißrussland gekracht. Möglicherweise war er beim Fahren eingeschlafen, vielleicht hatte er sich auch auf spektakuläre Weise das Leben nehmen wollen. Inwieweit Alkohol oder andere Drogen im Spiel waren, würde noch zu klären sein.
Seine politischen Freunde gingen von Beginn an von Selbstmord aus und gaben sich angemessen betroffen. Sprachen von einer unbegreiflichen Kurzschlusshandlung eines hoffnungsvollen Talents. Vom schrecklichen Ende einer möglicherweise großen Zukunft. Nachdenkliche Kommentatoren überlegten inzwischen, ob der Verdacht gegen Gröwer manchen
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