Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Parteifreunden nicht sehr gelegen gekommen sei. Von Neidern und Zwistigkeiten wurde gemunkelt. Von alten Rechnungen kaltgestellter ehemaliger Mitstreiter.
»Haben Sie die Nachrichten gesehen?«, fragte mich Balke, als wir uns am Dienstagmorgen auf der Treppe trafen.
»Ich sehe morgens nicht fern. Verdirbt mir den Appetit.«
»Manchmal lohnt es sich. Haben Sie zwei Minuten?«
Ich folgte ihm in sein Büro. Es dauerte einige Sekunden, bis er das, was er mir zeigen wollte, auf den Seiten von n-tv gefunden hatte. Wieder einmal gab es ein Video zu sehen. Die Szene zeigte den hell erleuchteten gläsernen Eingang eines modernen Hochhauses. Es war Nacht. Den Ton hatte Balke abgestellt. Der Eingang wurde von Reportern und Fernsehkameras belagert, die auf etwas zu warten schienen. Plötzlich stürmte ein Mann heraus, drängte sich rücksichtslos durch Reporterpulk und Blitzlichtgewitter, stieß Mikrofone zur Seite, bestieg einen dunkelblauen Mercedes und raste mit quietschenden Reifen davon.
»Eine Dreiviertelstunde später war er tot«, sagte Balke.
»Ich dachte, sein Mercedes ist silberfarben?«
»In seinen Kreisen besitzt man mehr als ein Auto. Wahrscheinlich hat er einen Daimler hier in Heidelberg, einen in Düsseldorf und einen in Berlin und noch einen SLK zum Mädelsaufreißen.«
»Und das war alles?«, fragte ich.
»Sie haben sie nicht gesehen?«
»Wen?«
Balke spulte das kurze Filmchen etwa bis zur Hälfte zurück und stoppte an einer bestimmten Stelle. Mit dem Mauszeiger deutete er auf eine Person im Hintergrund. Eine schmale, dunkelhaarige Frau stand etwa zehn Schritte hinter Gröwer. Sie schien mit ihm zusammen aus dem Lift getreten zu sein, war jedoch angesichts des Gedränges vor der Tür stehen geblieben. Das Gesicht war unscharf, da die Kamera natürlich den Politiker fokussierte.
»Ist sie das?«, fragte Balke.
»Könnte sein«, erwiderte ich mit belegter Stimme. »Können Sie mir das Filmmaterial der anderen Sender besorgen? Vielleicht ist sie auf einer anderen Aufnahme besser zu erkennen.«
»Geben Sie mir eine halbe Stunde.«
Während ich auf Balkes Anruf wartete, kam eine Meldung aus Berlin: Gröwer hatte während seiner nächtlichen Fahrt nach Osten an der Raststätte Spreenhagen Station gemacht, knapp fünfzig Kilometer vor Frankfurt an der Oder. Drei Zeugen hatten ihn erkannt, da man sein Gesicht in den vergangenen Stunden oft genug im Fernsehen hatte betrachten können. Und eine dieser drei Personen, eine Frau, behauptete, er sei in weiblicher Begleitung gewesen. Die beiden seien ausgestiegen, im Inneren der Raststätte verschwunden, und Gröwer sei wenige Minuten später allein weitergefahren. Die unbekannte Frau sei jung gewesen, schmal und dunkelhaarig. Das Timing stimmte. Gröwer war dreizehn Minuten nach Mitternacht aus dem Gebäude in Berlin gestürmt, hatte irgendwo, vielleicht an einem Hintereingang, vielleicht an der übernächsten Ecke, seine Begleiterin aufgelesen, war vermutlich auf direktem Weg in Richtung Autobahnring gerast und eine gute Stunde später bei Spreenhagen zum letzten Mal lebend gesehen worden.
Balke fand nur einen weiteren Nachrichtensender, dessen Kamera die junge Frau ebenfalls eingefangen hatte. Ich leitete die beiden Links an meine Töchter weiter. Eine Viertelstunde später hatte ich die Antworten.
»Ja«, schrieb Sarah.
»Nein«, schrieb Louise. »Das ist nicht Lea.«
Ich kopierte die beiden Filmchen auf meinen Speicherstick und machte mich auf den Weg zu Lassalle, der telefonisch wieder einmal nicht zu erreichen war.
In der Regenbogenpresse wurde an diesem Morgen genüsslich die Frage diskutiert, was aus dem bemitleidenswerten Mädchen geworden sein mochte, das Gröwer so schändlich verführt hatte. Die Artikel gipfelten in der als Frage formulierten Unterstellung, Gröwer habe das Kind zur Seite geschafft, um die Entdeckung seiner Beziehung zu einer Minderjährigen zu verhindern. Lea L. wurde zur Unschuld mit großen dunklen Augen stilisiert. Ein unerfahrenes Mädchen, das den Verführungskünsten eines prominenten Schürzenjägers erlegen war.
Lassalle öffnete mir die Tür erst nach dem fünften Klingeln. Er stank schlimmer denn je nach Alkohol, war jedoch ansprechbar.
»Gehen Sie überhaupt nicht mehr ans Telefon?«, fragte ich.
»Rufen ständig irgendwelche Fernsehfritzen an.«
Wie zur Bestätigung begann es in seinem Rücken zu trillern. Offenbar war die Medienmeute bereits auf der richtigen Fährte.
»Ich habe hier etwas, das Sie sich
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