Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
nicht.
Aber auch, als ich kurz darauf ein zweites Mal auf dem Weg nach Hause war, ließen die Bilder mich nicht los. Dieses Getobe und Gerammel hatte etwas ungeheuer Gewalttätiges gehabt. Von Zärtlichkeit oder gar Liebe war da nichts, aber auch gar nichts zu spüren gewesen. Der Kerl hatte seine Herrscherrolle sichtlich genossen, Lea grob behandelt und hart bis zur Brutalität angefasst. Und das vielleicht Schlimmste daran war: Balke hatte recht. Sie schien es zu genießen.
Am Nachmittag rief Balke noch einmal an.
»Mehr kommt nicht«, erklärte er. »Der Rest ist wohl futsch.«
»Haben Sie das Gesicht des Mannes gesehen?«
»Nein. Ich denke inzwischen, er wollte das nicht. Aus gutem Grund. Aber ich bin mir jetzt sicher, es ist Gröwer.«
»Der Verdacht bleibt vorläufig unter uns«, ermahnte ich ihn. »Jetzt mehr denn je. Was meinen Sie – reicht das Material, um ihn damit zu erpressen?«
»Hängt von der Stärke seiner Nerven ab. Wenn ich Staatssekretär wäre, dann würde ich nicht wollen, dass dieses Zeug bei Youporn auftaucht.«
»Und Sie sind wirklich überzeugt, dass er es ist?«
»So überzeugt, wie man sein kann, wenn man das Gesicht nicht sieht.« Balke stöhnte wütend. »Wenn wir den Mist seiner Frau zeigen könnten. Die würde ihn auch so erkennen.«
»Und was wäre mit …«
Ich brach ab. Aber Balke war schon derselbe Gedanke gekommen. »Sie denken an unsere süße Angelina?«
»Sie finden sie süß?«
Anstelle einer Antwort lachte er.
»Vorläufig halten wir das Material unter Verschluss. Wer außer uns beiden hat es gesehen?«
»Außer den Jungs in Griechenland niemand.«
»So wird es auch bleiben.«
Am Montag, dem neunzehnten Dezember, brach die Hölle über uns herein. Der erste Schlag traf mich, als ich – noch im Bett und im Halbschlaf – die Sechs-Uhr-Nachrichten hörte. Wach wurde ich bei der Meldung, Staatssekretär Carsten Gröwer habe für elf Uhr eine Pressekonferenz angekündigt.
»Staatssekretär ein Kinderschänder?«, lautete die heutige Schlagzeile von Deutschlands größtem Boulevardblatt, erfuhr ich in den nächsten Minuten. Ich verzichtete auf Frühstück und Kaffee und machte mich auf den Weg in die Direktion.
»Liebekind hat schon angerufen«, empfing mich Sönnchen aufgelöst, die natürlich auch Nachrichten gehört hatte. »Und die Staatsanwaltschaft …«
»Erst mal Liebekind«, entschied ich und warf meinen Mantel über die Garderobe.
»Es kann nur eine Zeugin gewesen sein, mit der ich am Samstag gesprochen habe«, erklärte ich meinem ungewohnt nervösen Chef. »Sie weiß im Grunde nichts. Aber sie hat leider allen Grund, diesen Dr. Gröwer zu hassen.«
»Und offenbar einen gut entwickelten Geschäftssinn.« Liebekind stöhnte.
Angelina Ferrini hatte ausgepackt und damit dem Mann, der sie auf so miese Weise hintergangen und verstoßen hatte, das Messer an den Hals gesetzt. Vermutlich aufgewühlt durch unser Gespräch am Samstag, hatte sie beschlossen, sich zu rächen und nebenbei ein wenig Geld zu verdienen.
»Wir werden überhaupt nicht erwähnt. Sie redet nur von Gröwer und einer Schülerin, mit der er ein Verhältnis hat und die seit drei Wochen verschwunden ist.«
Liebekind war nicht beruhigt. »Es wird nur noch Stunden dauern, dann ist der Name des Mädchens an der Öffentlichkeit«, meinte er. »Irgendwer wird reden. Ein Klassenkamerad, eine Freundin …«
»Bisher ist es eine Sache zwischen Frau Ferrini und Gröwer. Noch einmal: Von uns ist überhaupt nicht die Rede.«
»So gut, so schlecht«, sagte mein Chef mit saurer Miene. »Vielleicht haben wir Glück, und der Sturm legt sich so rasch, wie er aufgezogen ist.«
Der Sturm legte sich nicht. Im Gegenteil – er nahm im Lauf des Tages an Stärke zu. Noch vor der angekündigten Pressekonferenz gingen die ersten Stellungnahmen von Gröwers Parteifreunden über die Nachrichtenagenturen. Man stand voll und ganz hinter dem jungen, aufstrebenden Staatssekretär, der jedes Potenzial für eine große politische Karriere hatte. Das Ganze könne nur auf einer hinterhältigen Intrige politischer Gegner beruhen. Noch heute werde man die lächerlichen Vorwürfe entkräften. Das angebliche Opfer von Gröwers Verführungskünsten sei außerdem erwachsen, von Missbrauch Minderjähriger könne also überhaupt keine Rede sein. Gröwer selbst war für Stellungnahmen nicht zu erreichen. Sein Büro verwies auf die Pressekonferenz, die inzwischen auf dreizehn Uhr verschoben war.
Mein Telefon ließ mir an
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