Alexander in Asien: Alexander 2 (German Edition)
Nasenflügel waren fast weiß. Er hatte die Augen geöffnet, starrte an die ferne Raumdecke. Die Hände, abgemagert, krochen wie verwirrte Spinnen über die Tücher. Einer der Ringe saß lose auf dem Mittelfinger der Rechten; der große, schwere Goldring mit dem Siegel der achaimenidischen Großkönige. Als sie zum Bett traten, glitt die Hand von der Decke, baumelte über den Rand. Der Ring verließ den Finger.
Perdikkas, als erster neben dem Bett, fing ihn auf, ehe er den Boden berührte.
»Hat er ihn mir geben wollen?« murmelte er.
Eumenes gluckste. »Das glaubt dir keiner!«
Perdikkas beugte sich über den sterbenden König. Die anderen drängten sich um ihn, damit sie hören konnten. Falls es etwas zu hören gab.
»Herr«, sagte Perdikkas leise und eindringlich. Dann schluchzte er auf; dicke Tränen rannen über sein Gesicht und tropften auf Alexanders Stirn. »Freund. Alexander.«
Die hohlen, fieberglühenden Augen bewegten sich, verließen die hohe Decke, huschten über die Gesichter, kippten wieder nach oben.
»Wer, Alexander? Wer soll dein Werk fortführen?« sagte Perdikkas, wie flehend.
Langsam, langsam, als müsse er unendliche Widerstände überwinden, hauchte Alexander etwas; die Lippen bewegten sich kaum.
KRA. Oder GRA. Oder so ähnlich. Alle hatten es gehört, keiner mehr als dies; sie fragten, wollten ihn schütteln, aber er regte sich nicht mehr, und schließlich trieb Philippos alle vor sich her, zurück ins Gesprächszimmer.
»Kra, kra, kra«, sagte Meleagros, als sie berichtet hatten. »Krateros? Nachfolger Parmenions als Oberbefehlshaber nach Alexander, jetzt Nachfolger von Antipatros als Statthalter in Europa – Stellvertreter des Königs, auch Nachfolger?«
»Krateros ist nicht hier«, sagte Perdikkas schneidend. »Vergeßt ihn.«
»Ob er sich nicht in Erinnerung bringen wird?« murmelte Eumenes. »Denkt an Susa, an die Vermählung und die Ehren. Er stand als dritter da, vor ihm nur Alexander und Hephaistion. Wir alle nach ihm ...«
»Vergeßt ihn«, sagte nun auch Ptolemaios; er wechselte einen Blick mit Perdikkas und nickte kaum merklich. Perdikkas zwinkerte.
Philippos schwor, es sei nicht kra, sondern gra gewesen. Vielleicht graia, die Alte – Olympias; damit erntete er Hohn und Empörung. Oder graikos, bei Sophokles ein Begriff für alle Hellenen? »Irgendwas mit gramma- oder graph-; vielleicht hat er doch etwas geschrieben über die Nachfolge?«
»Bah. Wie wär’s mit grammatephoros – irgend einen tüchtigen Briefträger werden wir doch finden, oder?« sagte Leonnatos wütend.
»Kra«, sagte Perdikkas nachdrücklich. »Bloß was – krabbatos? Ein Ruhebett für den Herrscher, oder ›laßt mich schlafen‹? Krama – das Gemischte, wir alle zusammen? Kranioleios – der ›Kahlkopf‹ Antipatros? Kratistos – der Stärkste, der Beste, der Tapferste?«
»Krateros der Tapfere«, sagte Meleagros.
»Vergiß ihn!« brüllte Perdikkas. »Kra, kra, kra – kratistos. Das ist es. Ich bin jetzt ganz sicher, daß er kratistos gesagt hat.«
»Ist es dir gelungen, dich dazu zu überreden?« sagte Eumenes mit einer Grimasse. »Und wer soll das sein – der Beste, Tapferste, Stärkste?«
»Das werden wir nach und nach feststellen.«
»Außer mir noch jemand für Krateros?« sagte Meleagros, der sich offenbar auch durch Perdikkas’ Gebrüll nicht einschüchtern ließ.
Keiner antwortete.
Nearchos wanderte durch die Schlieren der Schlaflosigkeit im Gewölbe der Nacht umher. Er durchquerte ganz Babylon, oder jedenfalls den größten Teil der Stadt. Kein Stern war zu sehen; die dichten Wolken hatten sich immer noch nicht aufgelöst, sie brüteten über allem wie eine Glucke. Zahllose Menschen waren auf den Straßen und Plätzen, hockten leise murmelnd irgendwo zusammen oder warteten stumm auf etwas, das ebenso gewiß war wie unfaßlich.
Im Morgengrauen kehrte er in den Palast zurück. Etwas zog ihn in den leeren Thronsaal. Es gab keine Wachen, nichts außer dem Thron der Großkönige, von Susa hergebracht, war dort zu stehlen. Er hörte ein fernes, fast unheimliches Geräusch, konnte aber im Zwielicht nichts erkennen. Es klang wie ein Schaben, dann ein Kichern. Er ging dem Ton nach.
Erst als er vor den Stufen des Throns stand, im Schatten zwischen zwei halbhellen Fensteröffnungen, sah er.
Arridaios, Alexanders Halbbruder, Sohn des Philipp und der Philinna. Er trug einen makedonischen Reisemantel. Auf dem Kopf hatte er die doppelte Krone des Pharao, in der einen Hand das
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