Alexander in Asien: Alexander 2 (German Edition)
am Granikos. So viele eurer Philosophen und unserer Priester haben uns so viele verschiedene Wahrheiten dargereicht – oder feilgeboten. Wie könnte ich ...?«
Aristandros klatschte in die Hände; er schnitt eine Grimasse. »Am Ende sind all diese verschiedenen Wahrheiten nur kleine Stückchen der einen großen Wahrheit. Aber ich fürchte, du hast bisher nicht einmal versucht, uns deine kleinen Wahrheiten zu sagen, Bagoas. Ich habe bis jetzt nur Lügen gehört – kleine Lügen, die etwas Großes verbergen sollen.«
Alexander betrachtete das düstere Gesicht seines obersten Sehers mit einer Mischung aus Erwartung und Billigung. »Und was verbirgt er, nach deiner Meinung?«
Aristandros hob die Schultern und starrte in seinen Becher. »Er ist wie Wein, Bagoas – Bagâvayâh. Schwer, mit vielerlei Geschmack, man kann ihn anschauen, aber nicht hindurchsehen, und wenn man zu viel von ihm zu sich nimmt, verursacht er Erbrechen und kreiselnden Kopfschmerz.« Aristandros blickte auf und lächelte schief. »Ich glaube, er verbirgt vieles vor uns, aber auch vor sich selbst. Ich bin nicht sicher, daß er selbst weiß, was er eigentlich anstrebt. Was ist es denn, edler Perser – was hält dich in Bewegung? Ist es Gier, Durst nach Wissen, Hunger nach Macht?«
Alexander nickte und musterte Bagoas. »Also?«
Bagoas stülpte die Lippen vor und zwinkerte Aristandros zu. »Gier? Durst nach Wissen? Hunger nach Macht? Ach, braver Aristandros, du unterschätzt mich. Was ist das schon – Wissen, Macht, Reichtum, Weisheit, Einfluß? Nichts, verglichen mit dem, was ich begehre.«
Parmenion stützte sich auf einen Ellenbogen; mit einer zweifelnden Grimasse sagte er: »Es muß ja gewaltig sein ... Laß uns, edler Bagoas, gnädiglich wissen, wessen du begehrst. Was ist denn größer als diese verworfenen Dinge?« Langsam, überdeutlich sagte Bagoas: »Etwas, was ihr nicht verstehen werdet, außer vielleicht Eumenes. Ihr alle seid Krieger. Ich bin nur ein fetter alter Mann, harmlos und ohne Freunde. Und ich suche das, was so nah ist und doch so fern.« Er blickte nun völlig ernst. »Ich will nur leben. Überleben. Dauern.«
Perdikkas spuckte aus. »Das ist das Gerede eines Feiglings.«
Alexander musterte Bagoas mit Augen, die scharfe Schlitze waren. »Ist das alles? Nicht Ruhm, nicht Macht, nicht Weisheit? Nur ein langes Leben? Ewiges Leben, in unsäglicher Dauer und Schande?«
Bagoas breitete die Arme aus. »Einfach dies, zu sein und nicht zu enden. Das ist die wesentliche Voraussetzung für alles andere. Du kannst weder Reichtum noch Ruhm noch Weisheit noch Macht erlangen, wenn du gestorben bist, Alexander. Das mußt du vor dem Tod erledigen. Also schieb ihn hinaus und gewinn mehr Zeit für die Dinge, an denen dir liegt. Der Tod ist nicht das Ende, sagen unsere Priester; aber er ist das Ende aller faßbaren, irdischen Dinge.«
»Was sagen denn eure Priester?« sagte Philippos. »Ich habe so viele tote Männer aufgeschnitten und nie etwas namens Seele gefunden. Was sagen deine Priester, Perser?«
Bagoas schloß die Augen, als müsse er gründlich nach innen blicken. »Es gibt viele Priester und vielerlei Gerede. Da gab es den alten Glauben, den uns Mithra der Stier schenkte, Mithra, der Herr des Bundes; und auch Anahita gab ihn, die Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit. Alte, uralte Götter, so alt wie Ägyptens Apis oder der kretische Stier Minos, und was auch immer ihre ursprünglichen Lehren gewesen sein mögen, wissen heute nicht einmal die Priester. Und weil sie es nicht wissen, dies aber nicht zugeben dürfen, vermengen sie dies und das. Mithra, heißt es, wurde aus einem Felsen geboren, und er hatte zehntausend Augen und Ohren. Den Großen Stier, erste Schöpfung der geheimen oberen Götter, hat er überwältigt und in eine Höhle gesperrt. Später zerschnitt er ihm die Kehle, und aus dem Blut des Stiers entstanden alle Pflanzen.«
Bagoas öffnete die Augen, richtete sich auf und lächelte ein wenig spöttisch. »Aber all das ist ungewiß. Mithra, das heißt ›Freund‹, aber wessen Freund? Er ist der Gott der warmen, lebenspendenden Luft, aber sein Heiligtum ist die Höhle. Ihm zu Ehren scharen sich immer wieder die Menschen in Höhlen zusammen, opfern Stiere und berauschen sich mit hauma, einem Trank, der aus giftigen Pilzen gewonnen wird; im Rausch empfindet man, daß man fliegt. Und andere Dinge, die den hochmögenden Verschnittenen mißfallen, da sie ihnen abgehen.« Er grinste und hob die Schultern. »Aber
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