Alexander in Asien: Alexander 2 (German Edition)
zu leeren Rollen, Tinte und Ried. Er saß im Schatten des toten Assyrers, angenehm kühl im heißen Herbst. Hier hatte er auch die Nacht verbracht, mit einem einheimischen Führer und einigen Männern des vorausgeschickten Aufklärungstrupps, die im Morgengrauen weitergeritten waren. Sardanapalos – der Einheimische nannte ihn Ashurbanipal – stand auf der Höhe eines kleinen Passes, aber es war eher ein Hügelzug denn ein Gebirge. Jenseits der bleigrauen Felsen fiel die Straße zu einem weiten Tal mit mehreren Wasserstellen ab, wo das Heer lagern sollte; der Staubwurm, der die Ebene furchte, näherte sich bereits dem Fuß der Hügelkette. Bald, kurz vor Sonnenuntergang, würden die beiden Könige einander begrüßen: der kleine lebende Makedone und der große tote Assyrer. Kallisthenes kicherte in einer Art schäbiger Vorfreude; der Einheimische hatte ihm gesagt, was die Gebärde des Assyrers bedeutete, und er hatte ihm die keilförmigen Zeichen der Inschrift vorgelesen – wie ein dumpfes Grollen – und übersetzt. Die kleine Ortschaft, durch die das Heer eben zog, wurde darin erwähnt, ebenso das große, fernere Tarsos, das sie am Morgen des Vortags verlassen hatten. Die Gebärde war nicht mehr eindeutig auszumachen; möglicherweise schnippte der Assyrer mit Daumen und Mittelfinger der Rechten oder bildete mit ihnen einen Ring. Allerdings war der größte Teil des Mittelfingers abgebrochen; was blieb, schien gereckt, als ob der Finger aufgestellt gewesen wäre. Angeblich lagen die Gebeine des Königs unter dem Sockel mit den Zeichen; das Standbild, zwei Männer hoch, war eher symbolisch für königliche Macht und Würde denn Wiedergabe persönlicher Eigenart: eine Gestalt mit entrücktem Blick, feinem Krausbart, strengen Zügen, angedeutetem Brustpanzer, Stab in der Linken, Schwert im Gürtel, Beinschienen, hohen Sandalen.
»Mal sehen, was er sagt«, murmelte Kallisthenes. Der kleine Makedone, dem er vor Jahren Unterricht erteilt hatte, in Mieza ... Er wußte, daß er ihm unrecht tat – inzwischen wußte er es wieder, aber dazu hatte es der Entfernung und der Einsamkeit bedurft; Alexanders Nähe verzerrte alles. Das stickige, überfüllte Tarsos, in dem es Demaratos gelungen war, den fetten Perser zu verlieren, den sie seit dem Granikos mit sich schleppten; das stickige überfüllte Heerlager außerhalb der Stadt, in dem Alexander mit dem Tod gerungen hatte; die Männer und Händler und Dirnen; Dreck, Staub, Waffen und Pferde ... Er schloß die Augen, sah wieder das große Zelt des Königs, mit schmucklosen Bahnen aus Leinen und Leder, mit schmucklosen Liegen, billigen Klapptischen; das öde Essen, den schlechten Wein aller Gegenden, durch die man gerade zog; Alexanders kleineres Zelt, schmucklos, eine harte breite Liege, auf der Hephaistion oder einer der Königsknaben die einzige Behaglichkeit besorgte; der hölzerne Bottich, in dem Alexander badete; das karge lederbespannte Gestell, auf dem er sich von seinem Bademeister kneten und salben ließ ...
Wieder seufzte er. All dies gehörte zum Heer, zum Zug, zu den Eilmärschen; unvermeidlich. Er mochte sich nach hellgewandeten Freunden sehnen, nach der Kunst des Verweilens unter attischem Himmel, nach anmutigen duftenden Buhlerinnen und besserem Wein und feineren, köstlich gewürzten Speisen, insgesamt nach anderem Umgang. Aber nun, gestärkt von Einsamkeit, konnte er wieder zugeben, daß Alexander sich mit Männern von einzigartiger Bildung umgab. Der König selbst schlief immer mit seinem Schwert und der von Aristoteles und Kallisthenes erstellten Ilias; die mit ihm in Mieza Erzogenen wie Hephaistion, Krateros, Ptolemaios, Perdikkas mochten andere Vorlieben haben, beherrschten aber die Werke von Homeros, Euripides, Sophokles und anderen Großen auswendig. Musiker, Schauspieler, Dichter, ebenso Gaukler und Magier waren immer dabei, außer in den hastigen Nächten der Eilmärsche; desgleichen Philosophen, Mathematiker und allerlei sonstige Wissenschaftler. Hier, im Schatten des Sardanapalos, kühl und gelassen, gab Kallisthenes sich selbst gegenüber zu, daß Feinheit und Scharfsinn der Abendrunden vermutlich alles übertrafen, was Athen zu bieten hätte.
Und nicht nur Feinheit, sondern auch Fremdheit. Er mußte Aristoteles unbedingt von diesen bärtigen alten Männern berichten, den Männern der Nacht, wandernden Erzählern und Dichtern Asiens, die Alexander um sich versammelt hatte und die ihn zerstreuten, wenn die Schwärze der Nacht in seinen Kopf
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