Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
hatte – na ja, nicht mehr als eine Geschichte eben. Dagegen sprach, dass das Paket zufällig angeliefert worden war, als sie in der Redaktion gesessen hatte. Doch auch das konnte arrangiert gewesen sein. Und Kraft hatte ihr erzählt, dass die E-Mails von seinem eigenen Rechner gekommen waren. Bei der mutmaßlichen Toten handelte es sich außerdem um seine Psychologin. Nicht auszuschließen, dass er mit ihr wie mit den anderen beiden Frauen eine Rechnung offen hatte. Einige psychisch Kranke entwickeln bekanntlich eine Hassliebe zu ihren Therapeuten.
Das Trauma, von dem er ihr erzählt hatte, seine Beschäftigung mit dem Purpurdrachen, mit Roth. Möglicherweise hatte er sich sein eigenes Szenario geschaffen, das ihn in der psychischen Krise, in der er sich unverkennbar befand, zu den Morden getrieben hatte. Vielleicht war der offensive Umgang mit allem nur Tarnung. Nebelkerzen. Und was hatte es mit den Blackouts auf sich, von denen er erzählt hatte? Klassische Situationen, in denen jemand nicht weiß, was er tut. Sicher, es lag auf der Hand. Er hatte ein Problem mit Frauen, war männlich, mit einer Kopfverletzung sowie an einem Trauma leidend, das die Geiselnahme im Kindergarten zum Ausbruch gebracht hatte. Ein ganzer Stapel an Parametern, die typisch für Serienmörder sein konnten. Alles, was Kraft in Nebensätzen erwähnt hatte, ergab jetzt einen Sinn. Ein Bild.
Alex schüttelte den Kopf. Sie war dumm gewesen. Sträflich dumm. Kalte Angst kroch in ihr hoch. Sie konnte das nächste Opfer sein. Den Tiger hielt sie ja bereits in Händen. Und wenn sie aus dem Loch wieder herauskommen würde, stünde Kraft neben dem Eingang und würde ihr eins über den Kopf ziehen – oder ihr die Kehle durchschneiden.
Alex tastete nach ihrer Handtasche. Mit zitternden Fingern öffnete sie den Reißverschluss. Zunächst ließ sie das Zippo hineinfallen. Nicht auszuschließen, dass sich darauf noch verwertbare Fingerabdrücke befanden. Dann tastete sie nach dem Handy und wurde etwas ruhiger, als das Licht des Displays die Dunkelheit erhellte. Immer noch kein Empfang. Natürlich nicht. Sie befand sich mitten in einem Berg, und wenn sie sich draußen schon in einem Funkloch befunden hatte, dann erst recht hier. Also nach wie vor kein Marcus und kein Reineking, die sie verständigen konnte. Sie war auf sich allein gestellt. Noch beruhigender als das spärliche Licht des Handy-Displays war die harte Kunststoffschale der Pistole, die sie aus dem Täschchen zog.
Alex schluckte. Es gab keinen anderen Weg als den zurück.
[home]
37 .
D as gepanzerte Einsatzteam hatte links und rechts der Tür Position bezogen. Reineking zischte durch die Zähne und spuckte auf den Boden. Üble Mietskaserne hier im Düsseldorfer Westen. Der Flur stank nach Reinigungsmittel und Erbrochenem. Die Kollegen hatten die Bude von Ludger Siemer ruck, zuck aufgespürt, und wie es aussah, waren sie es gewohnt, nicht lange zu fackeln und lieber gleich mit der Artillerie anzurücken, wenn es um Mordverdächtige mit einschlägiger Karriere wie der von Ludger Siemer ging.
Reineking zog seine Pistole aus dem Holster, klopfte an die Tür und achtete darauf, vom Türspion aus nicht gesehen werden zu können. Drinnen regte sich nichts. Er drückte auf die Klingel, die einen gedämpften Mehr-Ton-Gong erklingen ließ, und klopfte wieder.
»Hallo, Herr Siemer!«
Nichts.
»Hat er aufs Telefon reagiert?«, fragte Reineking einen der beiden Kriminalbeamten, die hinter dem schwerbewaffneten SEK -Team Position bezogen hatten. Der Dickere von beiden schüttelte den Kopf und nuschelte: »Er soll aber definitiv da sein. Hätte die Wohnung seit ein paar Tagen nicht verlassen.«
»Hm.« Reineking klingelte erneut. Als wieder nichts geschah, zuckte er mit den Achseln und ging einen Schritt zurück, um Platz für die Spezialisten zu machen.
Die Tür flog mit einem Krachen auf, als das Schloss aus der Verankerung brach. Drei SEK -Männer glitten mit vorgehaltenen MP s in den Flur. Reineking folgte mit den beiden Kollegen.
In der Wohnung war es drückend heiß, und es stank. Zum einen mochte das an den Bergen von Abfall liegen, die den Flur in eine wahre Müllhalde verwandelt hatten und die auch aus dem Raum quollen, der vermutlich die Küche war. Zum anderen …
»Scheiße«, flüsterte Reineking.
»Das ist in jedem Fall kein Armani-Deo«, sagte der dicke Beamte.
Wem dieser Geruch einmal in die Nase gestiegen war, der vergaß ihn nie wieder. Das Schlimmste daran war das
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