Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
einen Stapel Spiderman wäre ich bis zum Ende gegangen. Marcus war mal ganz tief drin – nur weil er sich und allen anderen beweisen wollte, dass er es kann. Hinterher hat er berichtet, dass dicke, rostige Gitterstäbe den weiteren Weg versperren. Und natürlich hat er erzählt, er habe Stimmen gehört, die meinen Namen geflüstert hätten. Der Wahnsinnige. Niemand ist je tiefer rein als er. Angst war immer schon ein Fremdwort für ihn. Später hat man sich dann hier getroffen zum Lagerfeuer, Nacktschwimmen und Knutschen. Wie gesagt – jeder kennt den Ort. Da vorne ist eine frische Feuerstelle. Er wird also immer noch genutzt.«
Marlon zog tief an seiner Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch in den Himmel.
»Hier«, sagte er dann und reichte Alex sein Handy. »Jetzt wissen Sie ja, was die sieben Löcher sind und wie sie aussehen.«
Alex nahm das Nokia, auf dessen Display ein pixeliges Standbild zu sehen war. Es zeigte die wuchtige Bruchsteinwand, die wie der Eingang zu einer unterirdischen Mine aus einem Fantasy-Film wirkte. Das Standbild gehörte zu einem Videoclip, und als sie mit dem Daumen auf den Menü-Knopf zwischen der Zahlentastatur drückte, setzte sich das Bild in Bewegung.
Das Rauschen, das sie vorhin in Marlons Büro gehört hatte, schien vom Wind zu kommen, der über das Mikro strich. Alex sah, wie das Bild von dem Wehr zurückschwenkte auf den See und den Steg, an dem ein Boot festgemacht war. Das Licht war apricot. Die Aufnahme schien abends gemacht worden zu sein. Dann schwenkte der Blick zurück auf das Wehr, und die Kamera setzte sich in Bewegung. Alex’ Nackenhaare stellten sich auf, als sie erkannte, dass in einer der Öffnungen etwas zusammengekauert lag. Es war eine Frau in einem Bikini. Die Knöchel füllten jetzt das Display aus, sie lagen in einer Blutlache. Eine Fessel war an der Achillesferse durchstochen worden. Die Kamera glitt über die blasse Haut, die von feinen Wasserperlen benetzt war, und zeigte dann das Gesicht. An der rechten Gesichtshälfte war eine große Prellung zu erkennen. Die Augenbraue war aufgeplatzt. Die Frau mochte Mitte, Ende dreißig sein. Sie trug kurzes blondes Haar. Die Kamera glitt weiter über den sportlichen Körper, und Alex sah, dass die Hände der Frau auf dem Rücken zusammengebunden waren. Das Muster des Stricks. Es glich dem, das bei den anderen Opfern verwendet worden war. Dann ein Stöhnen. Die Frau schien zu sich zu kommen. Die Kamera glitt zurück und filmte das Gesicht in Nahaufnahme. Die Augen flackerten. Sie öffneten sich. Zunächst war nur das Weiße zu sehen. Dann glitt die Iris unter den Lidern hervor, und die Pupille schien sich auf etwas zu fokussieren. Schließlich kam die Frau zu Bewusstsein. Sie erkannte etwas. Sie begriff. Sie begann zu schreien. Unwillkürlich zuckte Alex zusammen und streckte das Handy weit von sich. Die Stimme verzerrte. Das Bild wackelte heftig. Dann ein dumpfer Schlag. Und noch einer. Das Bild wurde ruhig. Die Augen der Frau waren nun wieder geschlossen. Ein feiner Blutfaden rann aus einem Nasenloch. Der Film brach ab.
»Mein Gott«, flüsterte sie. »Haben Sie eine Zigarette?« Marlon steckte eine an und reichte sie Alex, die begierig daran zog und das Wehr beobachtete. Es sah zwar immer noch aus wie vorher, und doch wirkte es schlagartig verändert. Jetzt war auch Alex davon überzeugt, dass irgendwo in der Tiefe etwas Unaussprechliches wartete.
»Das Handy ist mir neulich im Tennisclub gestohlen worden. Wie es aussieht nur zu dem Zweck, diesen Film aufzunehmen. Sie waren ja dabei, als ich es vorhin wiederbekam. Ich sollte das sehen. Ich sollte hierherkommen.« Marlon schnippte die Marlboro in den See und sah zu, wie die Kippe auf den Wellen tanzte.
»Die Frau …«, begann Alex.
Marlon nickte und kniff die Lippen zusammen. »Viviane. Sandras Freundin. Und meine Psychologin. Ich hatte eigentlich einen Termin mit ihr, ihn aber abgesagt und ihr eine SMS geschickt. Sie hat mir als Antwort geschrieben, dass sie am See zum Schwimmen sei.«
»Was wollten Sie von ihr?«
»Medikamente. C- 12 . Mich wegschießen. Seitdem das hier über mich hereingebrochen ist, bin ich ein Wrack. Ich habe wieder diese Aussetzer und bin kurz vorm Durchdrehen. Ich kann nicht mehr klar denken. Alles dreht sich nur noch um eines …«
»Und das ist?«
»Haben Sie das Boot erkannt?« Marlon zeigte auf die Jolle, die an dem Steg festgemacht war.
Alex nickte, stand auf und gab Marlon das Handy zurück. Dann
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