Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
feststellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich irgendetwas da drin befindet.« Denn es passte zusammen. Erst das Element Erde, dann Luft, jetzt Wasser. Als nächstes Tierzeichen musste der Tiger folgen, wenn ihre Theorie richtig war.
Mutig. Abenteuerlustig. Kraftvoll. Vielleicht ist dieses Mal das Zeichen die Aufgabe selbst, die Eigenschaften, die gefordert sind …
»Geben Sie mir Ihr Feuerzeug.«
Marlon sah sie fragend an.
»Ein wenig Licht wäre hilfreich«, erklärte sie ihm, und er gab ihr sein Zippo mit zitternden Fingern.
»Und, Marlon«, sagte sie, bevor sie in den Tunnel kroch, »rühren Sie sich nicht von der Stelle.«
»Ganz bestimmt nicht«, versprach er. »Ganz bestimmt nicht.«
Die ersten Meter waren noch erträglich. Unter Alex’ Füßen raschelte vertrocknetes Laub, das in den Abfluss hereingeweht war. Die Wände aus Bruchstein waren mit Moos bewachsen, und das Deckengewölbe mit Spinnenweben wie mit Zuckerwatte überzogen. Sie musste sich geduckt vorarbeiten, denn der Ablauf war nicht viel höher als etwas über einen Meter. Je tiefer sie in den Stollen ging, desto weicher wurde der Boden. Sie zwang sich, nicht mehr durch die Nase zu atmen. Der feuchte Gestank nach Moder war unerträglich, und es sollte sie nicht wundern, wenn irgendein Tier hier drinnen verendet war.
Oder noch etwas Größeres …
Alex schnippte das Zippo an, dessen Flamme die Dunkelheit nicht wesentlich zu verdrängen mochte. Sie blickte sich über die Schulter um und sah Marlons Silhouette im gleißenden Gegenlicht. Zehn Meter war sie vielleicht vorwärtsgekommen. Es war nicht abzuschätzen, wie viele noch vor ihr lagen. Als sie wieder nach vorne sah, zuckte sie zusammen. Eine handtellergroße Spinne seilte sich vor ihren Augen ab, um in dem nassen Boden zu verschwinden.
O Gott …
Für einen Augenblick befürchtete sie, das Gleichgewicht zu verlieren. Widerwillig suchte sie mit der Hand nach Halt an der Wand. Sie fühlte sich kalt, feucht und weich an. Wie etwas, was einmal gelebt hatte. Aber besser das, als in den undefinierbaren Morast zu kippen, wo alles Mögliche über sie hinweghuschen konnte. Eine Sekunde lang dachte sie an ihre Haare und was sich darin bereits verfangen haben mochte, verdrängte den Gedanken aber genauso schnell wieder, wie er aufgekommen war. Als sie sich wieder gefangen hatte, setzte sie ihren Weg fort.
Der Gang war tiefer, als sie erwartet hatte. Sie schätzte, dass sie bereits zwanzig Meter weit in den Hügel gegangen war, als sie ein leises Tropfen hörte. Es klang wie Wasser, das mit Nachhall in ein Reservoir irgendwo vor ihr fiel. Nach weiteren fünf Metern schälte sich etwas aus der Dunkelheit. Das Gitter. Es verschloss den weiteren Weg. Die Stäbe waren dick wie Handgelenke und völlig verrostet. Hier drin gab es nichts weiter zu entdecken. Endstation. Alex legte die Hände um die Eisenstäbe und rüttelte daran. Sie gaben nicht nach. Das Tropfen war jetzt deutlicher und genau vor ihr. Dort musste sich das Überlaufbecken befinden, von dem Marlon erzählt hatte.
Aber da war noch etwas hinter dem Gitter. Alex konnte es nicht genau erkennen. Es lag auf dem Boden und sah gelb aus.
Oder blond, kurzgeschnitten und gefärbt …
Sie streckte die Hand mit dem Feuerzeug so weit es ging durch das Gitter, um den Raum auszuleuchten. Und schließlich erkannte sie es. Sie ließ den anderen Arm folgen und bekam das weiche Etwas zu fassen.
»Hallo, mein Freund«, flüsterte sie schließlich, als sie es im Schein des Feuerzeugs betrachtete. Es war ein Stofftier. Ein Tiger.
Im nächsten Moment ließ Alex das Zippo zuschnappen, das mittlerweile glühend heiß geworden war, und verharrte in der Dunkelheit. Die Kühle ließ sie frösteln. Viel mehr aber noch der Gedanke an einige Dinge, die sie nicht berücksichtigt hatte. Wo war sie hier? In einer Rattenfalle. Und wer wartete draußen? Ein möglicher Serienmörder. Wer wusste, dass sie hier war? Niemand.
Du bist wirklich völlig irre, komplett bescheuert …
Alex schüttelte sich und drehte sich langsam auf den Hacken um. Weit vor ihr war der Ausgang als ein weißes Loch zu erkennen. Davor war kein Schatten mehr zu sehen, kein Umriss, der auf Marlon Kraft hindeutete.
Denk nach …
Die Sache mit dem Handy. Vielleicht hatte er das nur erfunden. Vielleicht hatte er den Film selbst aufgenommen, um sie hierherzulocken. Immerhin hatte er sofort gewusst, wohin er musste, und die Geschichte, die er ihr von den sieben Löchern erzählt
Weitere Kostenlose Bücher