zurück, in denen es schien, als schössen aus jeder seiner Poren die Nervenenden heraus, als kreiselte die Welt um ihn herum, bis er in ein grelles Loch stürzte, in dessen Zentrum sich nichts als Schwerelosigkeit befand. Ein Zentrum ohne Schmerz und Reue, in dem sich zu dem Paar rehbrauner Augen ein sich schlängelnder Drache gesellte, bevor alles schwarz wurde. In diesen Augenblicken schien er endgültig kurz vor dem Durchdrehen zu stehen.
Die Beteuerungen von Marcus, es habe sich um eine Art Unfall gehandelt, an dem Marlon keine Schuld trage, hatten ebenso wenig geholfen wie ein Gespräch mit Polizeichef Schwartz, der Marlon für den Einsatz gedankt und statt einer weiteren Scharfschützenkugel einen Präsentkorb geschickt hatte.
Dank. Nein, keinen Dank. Lieber Anklagen.
Marlon wollte die Schuld. Er wollte büßen. Erst Viviane, Ärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeutin, hatte ihn wieder auf die Spur gebracht. Als er seine Schwellenangst überwunden hatte und vor ihrer Praxis stand, war er nur noch ein Schatten seiner selbst: fünfzehn Kilo leichter, gefühlte fünfzig Jahre älter, schlaflos und gejagt von den Geistern, die er selbst heraufbeschworen hatte.
Die anfänglichen Gespräche waren fruchtlos. Mit aller Vorsicht versuchte Viviane, ihm zu verdeutlichen, dass er die zerstörerischen Kräfte herauslassen müsse, um nicht selbst daran zugrunde zu gehen. Ein erster Fortschritt war, als Marlon begriff, dass er krank war und es für seine Krankheit einen Namen gab. »So wie bei den Vietnam-Veteranen«, erklärte ihm Viviane. »Ein Trauma.«
Marlon schlug sich die Nächte im Internet um die Ohren und sog alles in sich auf, was er zu dem Thema finden konnte. Es half, der namenlosen Angst ein Gesicht zu geben, um wieder in das eigene schauen zu können. Und dann organisierte sie ihm besondere Medikamente. Ganz neu. Noch im Versuchsstadium. Viviane hatte ihre Kontakte spielen lassen und dafür gesorgt, dass Marlon in ein Testprogramm aufgenommen wurde. Irgendwann schlief er dann wieder die erste Nacht durch. Und vergaß. Die Erinnerungen waren nur noch Bilder, an die keine Emotionen mehr geknüpft waren, und die Bilder verblassten wie ein Polaroid, das jemand auf der Fensterbank im grellen Sonnenlicht vergessen hat. Die Pillen radierten das Böse aus. »Und dabei«, hatte Viviane zu scherzen versucht, »sind da auch Betablocker drin, im Zweifel also auch gut für dein überlastetes Herz.«
Marlon schob die Sonnenbrille in die Haare, die er mittlerweile schulterlang trug, und steckte sich eine Zigarette an. In der Ferne hörte er Donnergrummeln. Menschen huschten über den Platz. Schülerinnen hockten auf dem Sims des Marktbrunnens und leckten an bunten Eiskugeln. Er steckte den Adapter ins Handy und schloss es an den Laptop an, um seine Privatpost zu checken, bevor er die Mittagspause beenden würde. Vier Mails waren eingetroffen. Zwei warben für Penisverlängerungen, die dritte für neue Jeans aus einem New Yorker Onlineshop. Die vierte hatte als Betreffzeile »Für Herrn Kraft« angegeben. Mit dem Absender konnte Marlon nichts anfangen:
[email protected]. Die Mail bestand aus einem Satz. Marlon zuckte zusammen und schlug mit den Knien so heftig unter den Bistrotisch, dass die Espressotasse zu Boden fiel und auf dem Kopfsteinpflaster zerschellte. Wieder und wieder las er den Satz, und das Entsetzen kroch durch seine Adern.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte die junge Mutter.
Marlon wollte nicken, brachte aber nicht mehr als ein weiteres ruckartiges Zucken zustande. Er sah das Mädchen neben der Frau. Ihre kleine Tochter. Bestimmt war sie schon im Kindergarten. Bestimmt war sie … Ein helles Fiepen schoss durch Marlons Gehörgänge, und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Dann wurden die Töne rhythmisch und bildeten eine kleine Melodie. Jetzt spürte Marlon auch die Vibration am Gürtel. Glücklicherweise also kein Tinnitus. Nur der Pieper. Mit zitternden Händen löste er den Clip und sah auf das Display.
»Leichenfund. Lemfeld. Ecke Waldstraße/Eichenweg.«
Marlon steckte den Pieper zurück an den Gürtel.
Wieder las er den Satz der E-Mail. War diese Gleichzeitigkeit ein Zufall? Mit schweißnassen Fingern schloss Marlon die Mail und klappte das Laptop zu. Nein. Das war kein Zufall. Es war der Anfang von etwas. Und jemand wollte, dass er es wusste. Die Botschaft in der Mail ließ keinen anderen Schluss zu. Sie lautete:
Der Drache ist erwacht.
[home]
5 .
D er Tatort war ein