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Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache

Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache

Titel: Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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vielleicht …
    Rechts außen an dem Schneidwerk hatte sich ein Fetzen Stoff verfangen, und als Kröger genauer hinsah, erkannte er einen orangefarbenen BH . Als er den abgetrennten Fuß entdeckte, an dem noch ein Flipflop steckte, löste sich ein heiserer Schrei aus seiner Kehle, und eine unverdaute Masse aus Eierbroten folgte.
    Das Aas war ohne Zweifel weiblich.

[home]
    4 .
    M enschen, die Geldautomaten blockieren und sich benehmen, als würden sie die Geräte neu programmieren. Rentnerinnen in Metzgereien, die sich jede Scheibe Wurst vorführen lassen, als handele es sich dabei um 69 er Châteauneuf.« Marlon schürzte die Lippen und dachte nach. Der Typ im Parkhaus war ihm heute ebenfalls auf die Nerven gegangen. »Alte Säcke, die ihre Audis nicht unter acht Zügen einparken«, tippte er in das Laptop. Die Finger flogen über die Tastatur. Schließlich lehnte er sich in dem silbernen Stuhl auf der Terrasse des Cafés zurück, leerte den dampfenden Espresso in einem Zug und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. So viel zu heute.
    Viviane, seine Therapeutin, hatte ihm empfohlen, diese Listen täglich zu führen, um seine Aggressionen zu artikulieren. Klappte ganz gut. Das Word-Dokument mit dem Titel »Bullshit« umfasste inzwischen fünfundachtzig Seiten. Bald könnte er nach einem Verlag suchen. Ein Lächeln huschte über Marlons Lippen. Die junge Mutter am Nachbartisch auf der Außenterrasse lächelte freundlich zurück. Missverständnis. Machte nichts. Lächeln ist Lächeln, und jedes Lächeln ist gut, wie er bei Viviane gelernt hatte.
    Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken. Die Luft in der Stadt war tropisch und stickig, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich in einem Gewitter entladen würde. Marlon mochte Gewitter, aber heute sorgte die drückende Luft für dumpfe Kopfschmerzen, die sich vom Nacken aus über die Hirnschale ausbreiteten. Außerdem pochte und juckte die Narbe an der Schläfe, wo ihn die Kugel gestreift hatte. Einen Zentimeter weiter rechts, und er wäre entweder nur noch ein sabbernder Lappen oder der kälteste Polizeireporter der Stadt gewesen.
    Zwei Tage lang hatte er auf der Intensivstation gelegen. Nach den Schmerzen war der Wahnsinn gekommen. Als es nicht mehr zum Aushalten gewesen war, hatte Marlon Sandra um Vivianes Adresse gebeten. »Posttraumatische Belastungsstörung« lautete kurze Zeit später die Diagnose. Immer wieder die gleichen Alpträume. Schweißausbrüche. Panikattacken. Zugeschnürter Hals. Einmal hatte er in der Redaktion einen Weinkrampf bekommen, als er sich zwischen zwei Fotos nicht entscheiden konnte. Ein anderes Mal hatte er im Büro übernachtet, weil er sich im Dunkeln nicht mehr allein auf die Straße traute. »Höchste Zeit«, hatte Eddie am anderen Morgen gesagt und besorgt über die Brille gelinst, »dass du was tust.«
    Schuld an allem war natürlich die Sache mit dem Kindergarten gewesen. Nächtelang, monatelang hatte Marlon sich deswegen zerfleischt, denn er fühlte sich für alles verantwortlich, was geschehen war und was hätte geschehen können. Seinetwegen war alles außer Kontrolle geraten. Seinetwegen hatten die Scharfschützen geschossen. Seinetwegen war der Kindergarten gestürmt worden. Ja, es war nur gerecht, dass es ihn erwischt hatte. Er hatte es verdient. Genau wie Roth, dem eine Kugel die Schulter zerfetzt hatte und der im Hochsicherheitstrakt der Forensischen Psychiatrie saß, den er frühestens in ein paar Jahren wieder verlassen würde.
    Marlon hatte gezittert, geweint, sich tagelang in seiner Wohnung eingeschlossen. Immer und immer wieder hatte er die Schreie der Kinder gehört. Wie ein Echo. Er hatte dem Trägerverein des Kindergartens anonym zehntausend Euro gespendet und dem lieben Gott jeden Tag dafür gedankt, dass keinem Kind ein Haar gekrümmt worden war, obwohl er weder an Gott noch an sonst wen glaubte. In der Münsterkirche hatte er sogar fünfzig Kerzen gekauft und für die Heilige Jungfrau Maria angezündet.
    Was in den kleinen Seelen der Kinder vorgegangen sein mochte, als bis an die Zähne bewaffnete Polizisten ihre Spielzeuge unter den schweren Stiefeln zertreten hatten, hatte er sich Hunderte Male ausgemalt und sich vor Wut darüber den Kopf an der Tür blutig geschlagen. Vielleicht würde ein Mädchen drogenabhängig werden. Vielleicht ein Junge zum Verbrecher. Alles seinetwegen. Alles seine Schuld.
    Manchmal wurde es ihm auch jetzt noch zu viel, dann kam die Erinnerung an jene schrecklichen Momente

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