Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
ist und wir ihn finden, wird er nur noch einen halben Meter groß sein und wie ein Brikett aussehen. Und jetzt frage ich dich noch einmal: Was siehst du?«
Alex schluckte und versuchte sich zu sammeln. Dann schrie sie Marcus an. »Es ist das vierte Element! Das Feuer! Das vierte Opfer! Ist es das, was du hören willst? Der Hase an dem Spiegel – ja, das war eine Ankündigung!«
Marcus ließ ihren Arm los, streckte und massierte sich den Nacken.
»Danke für die brillante Analyse«, sagte er ruhig. »Und den Rest des Gutachtens will ich morgen bis zehn Uhr auf meinem Tisch haben. Botschaft angekommen?«
Alex’ Lippen waren zu schmalen Schlitzen zusammengepresst. »Ja.«
»Okay«, antwortete Marcus kalt. »Du kannst gehen.« Damit drehte er sich um, ging zu Reineking und Schneider und ließ sie einfach stehen.
»Arsch!«, zischte Alex ihm hinterher, und weil sie in ihrer Wut nichts anderes fand, trat sie mit Wucht gegen den Reifen des Rettungswagens. Dann hastete sie zurück zu ihrem Wagen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Bloß nicht, Agent Starling. Reiß dich zusammen …
Alex’ Nasenflügel bebten, und sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie sprang über die Schläuche und Pfützen und verfiel in Laufschritt.
Nur nicht hier, Heulsuse. Warte wenigstens, bis …
Alex schloss mit zitternden Fingern den Wagen auf, setzte sich ans Steuer und knallte die Tür zu. Im nächsten Moment schossen ihr die Tränen aus den Augen, und das Armaturenbrett verschwand hinter einem Schleier. Sie schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Schlug ein zweites Mal. Schließlich trommelte sie so lange auf den Kunststoff ein, bis ihr die Hände weh taten. Diese Scheiße. Dieser Dreck. Sie wollte nichts mehr damit zu tun haben. Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen. Vielleicht war dieser Job doch nichts für sie. Jule hatte recht. Sie sollte zurückgehen nach Düsseldorf, einen bescheuerten Anwalt heiraten und eine Praxis aufmachen, die Daddy bezahlen würde. Dann wäre Ruhe. Kein Blut. Keine Morde. All diese schrecklichen Dinge, alles ….
Okay, hör sofort auf. Be cool, baby. Everybody beeeeee cooooooool …
Es hatte keinen Sinn, sich so gehenzulassen. Es würde nichts ändern. Sie musste wieder einen klaren Kopf bekommen. Wenigstens hatte niemand diesen Ausbruch mitbekommen. Alex schniefte. Sie atmete einige Male tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Dann hob und senkte sich ihre Brust langsam wieder in einem normalen Rhythmus. Alex ließ das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen, schaltete die Innenbeleuchtung an und drehte den Rückspiegel in eine andere Position. Sie sah aus wie The Crow oder Robert Smith von The Cure in seinen besten Tagen: überall verschmierte Wimperntusche und Rußpartikel. Einige Haare klebten auf den nassen Wangen. Sie seufzte und suchte in der Ablage nach einem Taschentuch, als es an die Wagentür klopfte.
Es war Marcus. Er schien nach Worten zu suchen. Schließlich sagte er nur: »Es tut mir leid.« Es klang ehrlich.
»Schon gut«, nickte Alex, schniefte und wischte sich mit den brennenden Handballen über die Augenwinkel.
»Ich habe leider kein Taschentuch dabei …« Marcus versuchte ein Lächeln und zuckte mit den Schultern.
»Macht nichts.«
»Hey. Bleiben wir trotz allem vernünftig. Ich …«, Marcus zuckte mit den Schultern, »… bin ziemlich am Ende mit den Nerven, weißt du.«
»Klar. Brauchst du mir nicht zu erklären.«
»Aber wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren. Wir dürfen uns nicht verzetteln. Was du eben über Engberts erzählt hast – es ist eine andere Baustelle. Ein Nebenschauplatz. Wir müssen diese Morde stoppen. Und dazu müssen wir Marlon fassen.«
Ja, das ist deine Sicht der Dinge, Cowboy. Schwarz und Weiß …
Alex überlegte, ob sie ihm noch einmal sagen sollte, dass sie mehr denn je anderer Meinung war, ließ es aber bleiben. Er war der Boss. Sollte er sein Spiel spielen. Über kurz oder lang würde er erkennen, dass die Sache komplexer war. Dass sich große Räder hinter den Kulissen drehten, um die Figuren auf der Bühne in Bewegung zu halten. Die Belege würde sie in den Händen halten, wenn sie morgen oder noch heute Nacht den Stick auslas. Für den Augenblick sollte Marcus Marlon und das verdammte Gutachten bekommen.
»Es tut mir auch leid, dass ich eben …«, seufzte Alex.
Marcus machte eine abwehrende Geste. »Wir stehen alle unter Druck. Hättest mal vorhin Schneider
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