Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
Dann nahm er das Telefon vom Ohr und sah Alex fassungslos an.
»Du glaubst nicht«, sagte er tonlos, »was gerade passiert ist.«
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49 .
E s war ein Inferno. Als Alex mit Mario aus dem Wagen stieg, schlug ihr ein warmer Wind entgegen, der umso heißer wurde, je näher sie dem Gebäude kam. Sie sprang über armdicke Schläuche und drängte sich durch die Schaulustigen. Die Luft roch beißend, und sie atmete flacher. Die Kommandos der Einsatzkräfte, das Stöhnen der Geborgenen, das Rauschen aus den Schläuchen, das Surren der Generatoren, die die gigantischen, auf das Luisenstift gerichteten Flutlichtstrahler speisten, schwollen zu einer Kakophonie an, die nur von dem Brüllen des Feuers übertroffen wurde. In dem gelben Lichtschein, der regelmäßig vom tiefen Blau der Lichter auf den zahllosen Einsatzwagen durchtränkt wurde, erkannte sie Marcus, Reineking und Schneider neben einem Rettungswagen. Feuerwehrleute riefen durcheinander, hasteten an ihnen vorbei. Andere hüllten Menschen in Aluminiumdecken und brachten sie in Sicherheit hinter die Absperrung.
Die Flammen schlugen aus allen Fenstern, vereinten sich im Dachstuhl zu einer einzigen und strebten als orangefarbene Masse dem Nachthimmel entgegen. Myriaden von Funken tanzten wie zu Derwischen gewordene Glühwürmchen um sie herum. Weiter oben ging das Feuer in schwarzen Qualm über, der wie eine ölige Substanz das Sternenfirmament verschmierte. Die Feuersbrunst grollte wie ein Tier und zischte wütend die Feuerwehrmänner an, die sich ihm auf Drehleitern entgegenstemmten und im hohen Bogen Hektoliter um Hektoliter in seine Eingeweide pumpten. Ein Kampf der Elemente, in der unweigerlich das obsiegen würde, was in den Augen der Menschen seit Anbeginn schon immer das mächtigere gewesen war: das alles vernichtende Feuer.
Der Odem des Drachen. Er streicht über das Land.
Alex war wie hypnotisiert von dem Schauspiel. Es erinnerte sie an Bilder, die sie in Dokumentationen über Vulkanausbrüche gesehen hatte. An die Explosionen im World Trade Center beim Einschlagen der Flugzeuge. An die brennenden Ölquellen im Irak. Die Gewalt des Feuers war unbeschreiblich. Trotz des Grauens, das es hier und jetzt erzeugte, war es in seiner Bedrohlichkeit faszinierend. Und es konnte nur einen einzigen vernünftigen Grund dafür geben, dass die Flammen gekommen waren, um das Luisenstift zu fressen: Jürgen Roth. Der Vierte in der Reihe. Der Hase im Tierkreis. Der Hüter des Geheimnisses um den Purpurdrachen. Jetzt gab es nur noch einen Eingeweihten. Und das war Marlon.
»Was für eine Scheiße«, murmelte Schneider und zog an seiner Pall Mall. »Direkt vom Flughafen in Teufels Küche.« Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
»Hallo, Alex«, sagte Marcus und nickte ihr zu.
»Wir haben die ganzen Feuerwehrwagen gesehen«, stammelte sie und wandte sich schließlich von dem Feuer ab. »Mario und ich waren gerade bei Professor Engberts, und …«
»Engberts? Um diese Uhrzeit? Warum?« Marcus nahm Alex zur Seite.
»Kraft hatte mir heute Nachmittag draußen am See sein Diktiergerät gegeben. Darauf war die Aufzeichnung eines Gesprächs zwischen ihm, Engberts und Roth. Ich hatte dazu noch einige Fragen.«
Marcus senkte den Kopf und schüttelte ihn kaum wahrnehmbar. »Warum erfahre ich das erst jetzt?«
Alex antwortete nicht und leckte sich über die Lippen. Sie knibbelte nervös an einem Hautfetzen am Nagelbett.
»Kraft hat uns außerdem gerade eben kontaktiert«, schaltete sich Kowarsch ein. Marcus blickte ihn fassungslos an. »Er war bei Alex an der Wohnung«, fuhr Kowarsch fort. »Ich hab ihn orten lassen, das Signal war an Alex’ Adresse. Er hat sein Telefon wohl dagelassen.«
»Habt ihr das gecheckt?«
Kowarsch verneinte. »Das Handy wird ja nicht weglaufen, und ich habe einen Streifenwagen vorbeigeschickt. Ich hab von der Leitstelle gehört, wohin die ganzen Feuerwehrwagen unterwegs waren, da sind wir lieber erst mal hierhergekommen.«
Marcus wischte sich über die Augen. »Ich könnte kotzen. Ging das nicht schneller mit der Ortung?«
»Die haben so schnell gemacht wie möglich, und Zaubern können die auch nicht. Zumal wir das ja nicht jeden Tag machen.«
»Das ist trotzdem scheiße, Mario«, fauchte Marcus.
Alex sah, wie Kowarsch die Lippen zusammenpresste und die Fäuste ballte. »Ach, jetzt hör doch auf, Marcus«, blaffte er zurück. »Wer hat denn die schützende Hand über seinen alten Kumpel gehalten, hä? Und wenn hier einer weiß, wo der
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