Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
und sich zwang, die Bilder des Tages nicht mit jenen aus ihrer Vergangenheit zu vermischen. Das Sortieren und Ordnen war seit je ein Fimmel von ihr. Zu Hause bewahrte sie jede Einkaufsquittung auf und heftete sie nach Datum ab. Neben ihrem Computer befand sich ein Regal mit säuberlich beschrifteten Aktenordnern für die Ablage. Auch auf ihrem Schreibtisch im Büro lagen die Kugelschreiber exakt im gleichen Abstand nebeneinander. In dem Schubladen-Container darunter gab es ein Fach für Büroklammern, wobei die silbernen von den kupferfarbenen separiert waren, eines für Tesafilm und Scheren sowie ein weiteres für Post-it-Klebezettel in drei verschiedenen Farben. Während des Studiums hatte sie geradezu ein leidenschaftliches Verhältnis zu diesen Stickern entwickelt, auf denen sich Notizen und Anmerkungen anbringen ließen, um die Fachliteratur ganz individuell in Kapitel einzuteilen.
Es war im Übrigen weitgehend die einzige erotische Beziehung der letzten Jahre gewesen, abgesehen von zwei, drei erfolglosen Versuchen, sich nach Benjis Tod wieder auf das männliche Geschlecht einzulassen. Neben dem Studium, den über Büchern durchmachten Nächten, den Praktika und den Nachtdiensten war kein Platz für einen Kerl gewesen, der früher oder später ohnehin mit einem Anspruchsdenken um die Ecke käme und der Auffassung wäre, über ihre Zeit verfügen zu können. Zudem hatte Alex so präzise Vorstellungen von einem potenziellen Partner, dass fünfundneunzig Prozent aller Männer ohnehin durchs Raster fielen. Natürlich ließ sich das auch als eine Form der Vermeidungsstrategie interpretieren, aber so war das nun mal.
Schließlich hatte Alex vor vier Jahren eine Katze aus dem Tierheim zu sich geholt, damit die Nächte nicht ganz so einsam waren – Hannibal, ein fauler getigerter Kater, benannt nach Hannibal Lecter, der wie sein Namenspatron eine gewisse Vorliebe für Leber hatte. Ein Kerl ganz nach ihrem Geschmack, der sich nichts von ihr sagen ließ und sich auch mal traute, den Macho raushängen zu lassen. Der aber immer zur Stelle war, wenn sie ihn brauchte, der ihr aufmerksam zuhörte und sie reden ließ. Den es nicht beeindruckte, wenn die ansonsten so beherrschte, toughe und zielstrebige Alex heulend aus der Rolle fiel, und der ungefragt auf sie einging, wenn sie einfach nur mal Frau sein und kuscheln wollte. Hannibals einziger Fehler war, dass er eindeutig zu viele Haare auf dem Rücken hatte. Aber damit konnte Alex leben.
»Einen Doppelten, bitte sehr«, hörte sie Angelo neben sich sagen, und der Duft von frisch gebrühtem Espresso riss Alex aus ihrer Starre. Der Kellner ließ ein Glas Wasser folgen und zauberte damit ein Lächeln auf Alex’ Lippen. Die wenigsten servierten Espresso so, wie es sich gehörte. Sie war ein Espresso-Junkie, und ihren Kaffee trank sie schwarz und stark. Der Jura-Vollautomat in ihrer Dachgeschosswohnung war einer der wenigen Luxusartikel, die sie sich neben einzelnen Designer-Kleidungsstücken gönnte, während der Rest ihres Kleiderschranks zu großen Teilen von H&M gefüllt wurde. Okay, da gab es noch die Tasche von Gucci und einigen anderen Firlefanz. Na und? Schließlich war sie letztendlich ein Düsseldorfer Rechtsanwaltskind, und komplett konnte sie ihre Herkunft nicht verleugnen, auch wenn sie oft genug dagegen angekämpft hatte. Der starke schwarze Kaffee jedenfalls war in vielen Nächten ihr Begleiter gewesen – der einzige, der sie in kalten Wintern wärmte, der sie wach hielt und auf Touren brachte, ihre Sinne liebkoste und schärfte.
»Danke, Angelo.« Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn und schlürfte die köstliche Crema ab.
»Ist immer noch unheimlich schwül und warm«, kommentierte Angelo mit seinem weichen italienischen Akzent das Klima und schaute misstrauisch in den wolkenverhangenen Abendhimmel, durch den vorhin noch die Blitze gezuckt waren.
»Ja, hat keine Abkühlung gebracht. Eher wie ein Monsun.«
»Und wenn Sie nicht aufessen, wird das Wetter morgen auch nicht besser.« Angelo nickte in Richtung des noch halbvollen Salattellers und machte ein besorgtes Gesicht. »Kein guter Tag heute für Sie und die Polizei, was?«
Alex lachte müde und trank einen weiteren Schluck. »Nein, da haben Sie wohl recht. Es gibt Dinge, auf die kann man verzichten. Einige davon habe ich heute erlebt.«
Angelo schürzte die Lippen und stützte eine Hand in die Hüfte. »Wissen Sie, es kommen öfter mal Kollegen von Ihnen rüber zum Essen. Manchmal höre ich
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