Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
sich allerdings nicht sicher, ob der Grund dafür nur ihr forsches Auftreten gewesen war. Sie hatte noch etwas anderes in seinen Augen erkannt. Etwas, was weit über Wut hinausging.
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S andra. Konnte sie es sein? Es war möglich. Es war sogar wahrscheinlich. Marlon raste die Treppe hinauf. Die Flipflops – Sandra besaß dieselben. Er konnte sich gut daran erinnern. Sie waren mit Ed-Hardy-Motiven bedruckt. Mit einem chinesischen Drachen, der sich um eine Rose schlängelte. Die Uhr – eine Billiguhr. Ein Oma-Modell. Schmal. Silber. Genau wie Sandras. Sie hatte ihre bei Tchibo gekauft, weil sie auf Uhren keinen Wert legte und sie ständig vergaß, verlor oder achtlos in der Schublade verschwinden ließ, wenn die Batterie leer war und sie keine Lust hatte, eine neue zu besorgen. Vor allem aber der BH – da gab es nichts zu interpretieren. Marlon hatte ihn ihr geschenkt, als sie noch ein Paar gewesen waren. Wobei »Paar« es nicht ganz traf. »Paar« – das wäre zumindest aus seiner Sicht eine Stufe zu weit gewesen.
Marlon hatte beinahe den Schlüssel fallen lassen, als er die Wohnungstür aufschließen wollte. Seine Hände zitterten. Zudem war er klatschnass. Seitdem das Gewitter losgebrochen war, hatte es ohne Unterlass geregnet. Ein tropischer Wolkenbruch. Die wenigen Meter vom Wagen zur Haustür hatten gereicht, um ihn völlig zu durchnässen. Er knallte die Tür zu, ließ seine Slipper hastig von den Füßen gleiten und schaltete sofort den Computer ein. Während der PC hochfuhr, riss er sich das Poloshirt vom Leib und wäre im Schlafzimmer fast über die Hanteln gestürzt, als er ein trockenes aus dem Schrank zog.
Wie gewöhnlich herrschte in der Wohnung Chaos. Bücher- und Zeitungsstapel auf dem Parkett, Textilberge im Badezimmer, überall CD -Hüllen, leere Bier- und Mineralwasserflaschen sowie Bataillone überquellender Aschenbecher. Vor den Fenstern standen vertrocknete Stechpalmen, an den weißen Wänden hingen Drucke von Andy Warhol und Roy Lichtenstein, deren Farben matt aussahen. Das Glas der Rahmen war seit dem Tag nicht mehr geputzt worden, an dem Marlon die Bilder aufgehängt hatte. Im Schlafzimmer stapelte sich die frisch gewaschene Wäsche, an der noch die Wäschereizettel hefteten. Einige Socken hingen zum Trocknen über dem Metallrahmen des Ikea-Betts, in dem er vorgestern noch …
Sandra.
Er hatte sie seitdem nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihr gehört. Keine SMS , kein Anruf. Nichts.
Kein Wunder,
hatte er heute Nachmittag noch in der Redaktion gedacht, als er ihren leeren Schreibtisch in der Politikredaktion betrachtet hatte.
Sandra hat Urlaub. Das weißt du. Und es ist klar, dass sie sich nicht meldet, weil du ein Schwein bist.
Ja, er hatte sie in der Nacht schlecht behandelt. Sehr schlecht sogar. Sie hatten sich zum Abendessen getroffen. Sandra war noch immer in ihn verliebt und hatte angenommen, Marlon wolle die bereits erloschene Beziehung wieder aufleben lassen. Darum war es ihm allerdings nicht gegangen. Okay, ein netter Abend. Aber Marlon war ausschließlich auf Sex aus und sich sicher gewesen, dass es mit Sandra diesbezüglich noch mal klappen könnte. Sie war betrunken gewesen, und er mochte das. Alkohol hatte auf Sandra stets entfesselnd gewirkt. Als er ihre Bluse aufknöpfte, hatte er sich für einen Moment darüber gefreut, dass sie den orangefarbenen BH mit den Svarovski-Kristallen trug, den er ihr vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Damals, als ihre Beziehung auf dem Höhepunkt gewesen war.
Der Sex in der Nacht war wie gewohnt großartig gewesen. Danach hatte er sie mit den Worten nach Hause geschickt, nachts um zwei wäre in jedem Fall schnell ein Taxi zu bekommen. Erst hatte Sandra geweint. Dann hatte sie ihn beschimpft. Marlon hatte sie beschwichtigt, er wolle nur in Ruhe schlafen, und er möge sie nach wie vor sehr. »In dir ist keine Liebe«, hatte sie verbittert gesagt, bevor die Haustür zuschlug.
Kurz nachdem sie gegangen war, war Marlon wegen dieses Satzes ausgeflippt und hatte wieder eines der Blackouts gehabt, die er seit dem Kindergartendrama jedes Mal bekam, wenn er sich in die Ecke gedrängt und emotional unter Druck gesetzt fühlte. Sandra wusste, wir hart sie ihn damit traf. In einem Anflug von Intimität hatte er ihr verraten, dass das die letzten Worte seiner Mutter gewesen waren: »In dir ist keine Liebe.« Seine Mutter war an Krebs gestorben. Er hatte sich nie um sie gekümmert, immer den Job vorgeschoben und noch
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