nicht mal an ihrem Geburtstag angerufen. Erst als es zu Ende ging, war er mit einem Blumenstrauß von der Tankstelle ins Krankenhaus gefahren. Sandra hatte ihn mit seiner tiefsitzenden Angst konfrontiert, dass es wahr sein könnte. Dass in ihm wirklich keine Liebe war – außer der für sich selbst.
Nach dem Blackout war Marlon im Badezimmer mit starken Kopfschmerzen wieder zu sich gekommen. Er hatte splitterfasernackt auf dem Boden in einer Pfütze gelegen und wie eine Parfümerie gerochen. Sämtliche Aftershave- und Eau-de-Toilette-Flaschen lagen zerschlagen auf dem Boden. Der Radiowecker baumelte über der Handtuchstange: 4 . 45 Uhr.
Jetzt zeigte der Wecker 20 . 13 Uhr, und Marlon warf das Handtuch in die Badewanne, mit dem er sich die Haare trockengerubbelt hatte, als der sanfte Gong des Windows-Startsignals aus den PC -Boxen erklang. Er musste herausfinden, wo Sandra war. Natürlich konnte er unmöglich einfach bei ihr anrufen. Wenn sie tatsächlich das Opfer war, würde die Polizei alle Spuren überprüfen. Der aufgeregte Anruf eines Ex-Freunds käme einer Steilvorlage gleich. Marlon dachte nach, während er auf das AOL -Logo klickte. Hatte er jemandem von seinem Treffen mit Sandra erzählt? Nein. Hatte sie es erwähnt? Vielleicht. Bräuchte er ein Alibi? Mit Sicherheit. Und was, zum Teufel, hatte er während seines Blackouts angestellt? Marlon schauderte bei dem Gedanken daran, dass er möglicherweise selbst … Marcus! Als sein Freund wusste er, dass Marlon und Sandra ein Paar gewesen waren. Vielleicht sollte er mit ihm sprechen, dachte Marlon. Andererseits: Wenn Sandra die Tote wäre, würde Marcus ohnehin auf ihn zukommen. Man würde in jedem Fall Spuren von Marlon an ihr finden. Haare. DNA . Würde Marcus ihn dann vernehmen? Und ob. Sein überzogener Gerechtigkeitssinn hatte schon in der Schule genervt, und die Katastrophe wäre vorprogrammiert – Kumpel hin oder her. Marlon fröstelte bei dem Gedanken daran, zum Hauptverdächtigen in einem Mordfall zu werden – zumal es da einen gewissen Filmriss in der Nacht gegeben hatte … Nein, zunächst musste er selbst klarer sehen, bevor er jemanden ins Vertrauen ziehen konnte.
Er öffnete das E-Mail-Fenster, um noch einmal die Botschaft des Absenders zu lesen, der sich als Purpurdrache bezeichnete. Im Mail-Eingang war eine neue Nachricht. Marlon wurde es eiskalt.
Von:
[email protected] An:
[email protected] Betreff: Sandra
Marlon fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und atmete tief durch. Dann öffnete er die Mail.
Du hast sie gefickt. O ja, ich weiß das. Du bist ein schlechter Mensch und hast sie einfach davongejagt. So etwas tut man nicht. Der Körper einer Frau ist ein Altar, aber Du hast ihn entweiht. So war sie nur noch als Futter zu gebrauchen. Rohes Fleisch. Sie hat noch geweint, als sie in mein Auto einstieg. Sie war so schön. Ich konnte ihr Gesicht nicht ertragen. Ich musste es ihr nehmen, bevor der Drache sie holen kam. So bleibt sie in unserer Erinnerung, wie sie einmal war. Und der Drache, Marlon, er hat lange geschlafen. Sehr lange. Jetzt ist er hungrig. Seeehr hungrig. Ich wette, er hat schon wieder Appetit. Schlaf gut. Wir hören voneinander, nicht wahr?
Mit Hochverachtung
Dein Purpurdrache
Marlons Magen verkrampfte sich. Er erreichte gerade noch das Badezimmer, wo er sich in das Waschbecken übergab. Bittere Galle brannte auf den Schleimhäuten, kratzte im Rachen. Er putzte sich die Nase mit dem Handtuch und spülte den Mund mit kaltem Wasser aus. Als er sich im Spiegel betrachtete, blickte er in ein fremdes Gesicht, das erst langsam wieder die altbekannten Züge annahm.
Er müsste überprüfen, woher diese E-Mails kamen. Und er hatte noch einiges andere zu recherchieren. Er brauchte einen Plan, denn wie es aussah, war er in diesem Alptraum als Hauptdarsteller besetzt worden. Das Schlimmste daran aber war, begriff Marlon in diesem Moment, dass dieser Alptraum gerade erst begann. Und dass er nicht wusste, ob er daraus jemals wieder erwachen würde.
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7 .
E
ine Frau, angepflockt an Händen und Füßen. Vielleicht bettelt sie um ihr Leben. Vielleicht lässt sie alles wie im Fiebertraum über sich ergehen. Der Feuerschein der Fackeln erhellt den Kreis im Kornfeld. Das Licht züngelnder Flammen fällt auf schweißnasse Haut. Sie weiß nicht, was der Mann will, der über ihr steht und ihr eine Stahlschlinge um den Hals zieht. Etwas zerkratzt ihr Schlüsselbein. Etwas, das lebt und zuckt. Etwas, was sich panisch in ihrem