Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
niedergedrückt. Um das Feld zu betreten, werden die Traktorspuren als Weg genutzt, damit keine Fußspuren im Korn hinterlassen werden. In den neunziger Jahren hat es eine Versuchsreihe zu Kornkreisen von Studenten einer Technischen Universität in England gegeben. Sie setzten sogar Mikrowellen ein, damit in dem Feld erhöhte Strahlungswerte gemessen werden konnten. Bevor das Korn gebogen wurde, sengten die Studenten die Ähren an. Sie verwendeten dazu Brenner, wie sie zum Teeren von Dächern benützt werden. So viel also zunächst dazu.«
Schneider trank einen weiteren Schluck Mineralwasser. Dann wandte er sich zu Reineking, der während Schneiders Vortrag einige Detailfotos von dem Tatort gezeigt hatte.
»Fahr mal die andere MAZ ab, Kollege«, sagte er, und auf der Leinwand erschienen Aufnahmen, die in der Kriminaltechnik gemacht worden waren. Sie zeigten Reifen- und Fußabdrücke, ein Bild der toten Ratte, eine Drahtschlinge, die blutige, zerfetzte Kleidung des Opfers und dann ein langes Seil.
»Zunächst«, fuhr Schneider fort, »zum Täter. Wie ihr wisst, war der Tatort ein einziges Chaos, und wir sind auch noch nicht ganz durch mit der Analyse. Dann kam auch noch das beschissene Gewitter und hätte uns fast die schönen Spuren versaut, aber dem Herrn sei Dank sind wir von der schnellen Truppe. Wir haben also einige ausgeprägte Fußabdrücke in den Ackerfurchen und einige weniger tiefe, die wieder zurückführen. Er hat die Lady vermutlich huckepack getragen. Und er trug so was wie Clownsschuhe.«
Die Polizisten sahen Schneider fragend an.
»Na ja, nicht direkt Clownsschuhe«, schränkte er ein, »aber es waren Turnschuhe Größe 46 , und er hat mit Sicherheit kleinere Füße. Das sieht man an der Art des Abrollens. Der Schurke wollte uns reinlegen. Wir dürfen also voraussetzen, dass er nicht ganz doof ist.«
Marcus lachte kurz auf und hörte dann weiter zu.
»Eines der Seile war ein Abschleppseil. Möglicherweise hat es unser Mann aus dem Kofferraum genommen, weil ihm das mitgeführte Material nicht ausreichte. Er ist mit Sicherheit mit dem Auto angereist. Was für eins – da tappen wir im Dunkeln. Wir haben Hunderte von Reifenspuren auf dem Feldweg, da hat von den lieben motorisierten Kollegen beim Anrollen zum Tatort wieder keiner dran gedacht. Eindeutig zuordnen können wir nur die Spur eines Opels, die in den Graben führt, und das ist die Dienstkarre unseres verehrten Kollegen Reineking gewesen.«
Die Polizisten lachten, und auch Alex musste grinsen, während Reineking das Gesicht verzog: »Das konntest du dir nicht verkneifen, Rolf, was?«
»Nee«, sagte Schneider, »das war leider nicht drin, Kollege.«
»Also«, kam Marcus wieder zum Thema zurück, »wie es aussieht, wissen wir noch nicht allzu viel. Aber hört euch mal in der Stadt um, das Übliche, ihr wisst schon: einschlägige Lokale, Discos – und überprüft die Vermisstenfälle. Mario, du besorgst uns ein paar brauchbare Porträtaufnahmen von der Leiche. Alle bleiben mit Hochdruck am Ball, und ich will regelmäßig auf den neusten Stand gebracht werden. Sobald der Obduktionsbericht da ist und wir mehr über die Frau wissen, sprechen wir uns wieder. Rolf, teil die Leute bitte so ein, wie du sie brauchst.«
Damit war das Meeting beschlossen, und Alex griff gedankenverloren nach dem Mineralwasserglas von Schneider, um einen Schluck zu trinken. Sie fühlte sich leer. Wie bestellt und nicht abgeholt. Marcus hatte sie mit keiner Silbe um eine Einschätzung oder einen Kommentar gebeten. Entweder war er immer noch sauer, oder ihre Meinung interessierte ihn schlichtweg nicht. Beides war schlecht. Und auch sonst hatte niemand in der Sitzung irgendetwas anderes beachtet als ihre Brüste und dass die Frau Gräfin in der Zeitung hochtrabend als Profilerin bezeichnet worden war. Na klasse. Was hatte Helen gesagt? Zeig denen, was du draufhast. Und schließlich hatte Stemmle Alex unmissverständlich erklärt, wo ihre Kompetenzen und Befugnisse lagen. Nun, wenn der Berg nicht zum Propheten kam, dann musste der Prophet eben zum Berg gehen.
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10 .
M arcus stand am Fenster, als Alex das Büro betrat, und ließ den Blick über das Panorama seiner Stadt schweifen. Die Aussicht hier von der »Kaserne«, wie sie die Polizeibehörde der Einfachheit halber nannten, war atemberaubend. Hübsche Kirchtürme, einige wenige hässliche Hochhäuser aus den siebziger Jahren, das Schloss und die geduckten Hallen der weitläufigen Gewerbegebiete –
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