Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
eingebettet in satte grüne Hügel und umschlossen von einem kleinem Fluss, an dem die pittoreske historische Mühle lag und der weiter außerhalb zu einem großen See gestaut wurde, auf dem im Sommer an schönen Tagen bunte Boote tanzten. Ein Ort, in den ein brutaler Mord nicht passte. Ein Erdbeben, dessen Auswirkungen noch nicht abzusehen waren.
Alex hatte nicht angeklopft. Die Tür stand immer einen Spalt offen, so viel hatte sie in den letzten drei Wochen schon festgestellt. Marcus wollte als Vorgesetzter signalisieren, dass er für jeden stets zu sprechen war. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Akten und verdeckten fast das Foto einer blonden Frau in einem Silberrahmen. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing neben einer vom FBI ausgestellten Urkunde eine Reihe von gerahmten Bildern. Er war Hobbyfotograf, und seine Aufnahmen verrieten, dass er ein gutes Auge hatte: verwitterte bunte Türen in Griechenland, ein kanadischer See, Las Vegas bei Nacht, ein Vulkan auf den Kanarischen Inseln, ein Erinnerungsbild von Marcus in Skipper-Pose auf einem Segelboot und das sich ins Endlose schlängelnde Band der Chinesischen Mauer – die Fotos schienen Marcus Rückhalt zu geben und mochten ihm sagen: Da draußen gibt es noch eine andere Welt.
»Hallo?«, fragte Alex.
Marcus drehte sich um. Er hatte die Ärmel seines hellblauen Hemds aufgekrempelt, die Krawatte gelockert und musterte Alex von oben bis unten. Gelassen trank er einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und stellte sie dann auf einer Akte ab.
»Da schau her, Alex, unsere Pressesprecherin«, scherzte er und zog eine Augenbraue hoch. Er sah unverschämt gut aus, wenn er das tat.
»Na ja«, entgegnete Alex zögernd, »ich habe mich ja bereits entschuldigt, aber ich kann verstehen, wenn du noch sauer bist. Es fällt mir manchmal schwer, mich zu bremsen. Und ich wollte wirklich keine Schwierigkeiten mit der Presse hervorrufen.«
»Sauer?« Marcus hob abwehrend die Hand. »Quatsch. Marlon Kraft kann das ab, wenn man dem mal selbstbewusst gegenübertritt. Wir kennen uns seit der Schulzeit. Er ging zur Zeitung, ich zur Polizei, er nach Düsseldorf, ich blieb hier. Schließlich kam er wieder zurück, und wir sind immer noch Freunde. Wir spielen sogar regelmäßig Tennis.«
Dann schob er die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich lässig an seinen Schreibtisch. Fast stieß er dabei das Bild der blonden Frau um, hielt den Rahmen aber mit einer blitzschnellen Bewegung fest und stellte ihn sorgfältig wieder an seinen Platz. Er registrierte Alex’ fragenden Blick.
»Das ist Anna«, sagte er und machte eine kurze Pause. »Das war Anna.«
Marcus drehte den Bilderrahmen so, dass Alex das Bild betrachten konnte, auf dem die Frau an einem Felsen am Meer stand. Sie hatte sich sanft lächelnd über die Schulter umgedreht und strich sich eine Strähne aus der Stirn. Die Schuhe ließ sie an den Fingern baumeln. Ihr langer Schatten fiel über die Klippen. Eine Welle brach sich am Felsen, und die tiefstehende Sonne zauberte in der Gischt und in ihrem wehenden Haar eine zarte Aura aus Licht.
»Manchmal höre ich das Meer rauschen«, sagte Marcus leise und drehte das Bild von Alex weg. »Das Bild habe ich an der Algarve gemacht, in Portugal. Sie sieht so glücklich darauf aus. Wenn sie es sich hätte aussuchen dürfen, dann wäre das sicher der Platz gewesen, an dem sie …« Er zögerte und ließ die Hände wieder in den Hosentaschen verschwinden. »Wer hätte ahnen sollen, dass es nur ein halbes Jahr später so weit kommen sollte.«
Alex biss sich auf die Unterlippe. »Ist sie …«
Marcus nickte. »Ja. Ein Unfall. Er wurde nie geklärt.«
Benji, Anna, Benji …
»Das tut mir sehr leid, Marcus. Ich kann ein wenig nachempfinden, wie das ist, jemanden zu verlieren, den man geliebt hat. Es wird danach nie wieder richtig gut. Es ist, als ob die Farbe aus dem Leben gewichen ist, und manchmal kommt sie nicht wieder zurück.«
»Das stimmt.« Marcus blickte zu Boden. »Du hast auch jemanden verloren?«
»Es ist lange her. Mein Freund – er wurde erstochen. Wir waren in einer Disco. Er war nach draußen gegangen, um etwas Ecstasy zu besorgen, und …«
»Du hast Drogen genommen?« Marcus hob eine Augenbraue.
Alex schüttelte den Kopf, und ihr Zopf wippte. »Nein, nicht genommen. Mal ausprobiert. Rave-Zeit, Techno, Großstadt, du verstehst, und wir waren jung.«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht unterbrechen.«
»Benji, Benjamin, er kam nicht wieder, und
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