Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
hat, die sozusagen aus wissenschaftlichen Gründen angelegt worden sind. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass der Kreis schon vorher da war und der Täter ihn ganz gezielt ausgesucht hat – weil er als Tatort in sein Muster passte. Ein perfekter Platz für ein rituelles Opfer.«
Schneider warf einen überraschten Blick zu Marcus, der Alex aufmunternd zunickte.
»Das Wichtige ist: Was war zur reinen Tatausübung
nicht
erforderlich? Das führt uns zu der persönlichen Handschrift. Für den Täter muss dieser Ort eine besondere Bedeutung gehabt haben. Er hat das Opfer im Mittelpunkt des Kreises am Boden angepflockt und dort getötet. Zuvor hat er ihm mit einer Metallschlinge eine gefesselte Laborratte um den Hals gebunden. Ich nehme an, dass die Ratte, die in Panik war, das Gesicht der Frau verunstalten sollte. Das muss einen Grund haben. Der Mörder hat sich viel Mühe gegeben und die Gefahr auf sich genommen, entdeckt zu werden. Er hat sich wiederum nicht die Mühe gemacht, alles wieder verschwinden zu lassen, was er vorher gezielt besorgt hat: die Pflöcke, die Seile, Wachsfackeln. Er wollte entweder, dass alles gefunden wird, oder es hat ihn nicht interessiert.«
»Wenn ich mal kurz unterbrechen darf«, sagte Schneider und drückte seine Zigarette aus.
»Gleich«, fuhr Marcus dazwischen. »Eins nach dem anderen.«
»Ich vermute«, nahm Alex den Faden wieder auf, »die Frau war bewusstlos, während sie festgebunden wurde. Vielleicht hat er sie betäubt, gewürgt oder ihr einen Schlag verpasst. Jedenfalls war er nicht auf einen Kampf aus, der die Sache unnötig verkompliziert. Ich teile Reinekings Einschätzung: Er hat sie vor der Tat ausgewählt, wahrscheinlich hat er ihr aufgelauert, vielleicht kannte er sie auch persönlich. Der Täter muss kräftig genug sein, um eine erwachsene Frau zu tragen und zudem einen Rucksack oder eine Tasche für seine Utensilien mit sich zu führen. Ziemlich sicher war unser Täter also ein Mann, und er hat ganz offenkundig ein Problem mit Frauen. Die Ratte sollte der Frau das Gesicht nehmen, ihr möglicherweise die Schönheit rauben. Ratten sind erdgebundene Tiere, die in manchen Religionen sogar verehrt werden. Aber es war eine weiße Laborratte. Ein Tier, mit dem Versuche gemacht werden. Und ich denke, das könnte etwas bedeuten.«
Alex machte eine kurze Pause und sah in die Runde. Dann fuhr sie fort. »Wir haben es hier mit dem Anfang von etwas zu tun. Ich glaube, dass es nicht der letzte Mord war. In meinen Augen deutet alles auf eine Art ritueller Opferung hin. Und wer einmal beschließt, in die Kirche zu gehen, um eine Kerze anzuzünden, der wird das wieder tun. Warum der Mörder geopfert hat und wem, dazu habe ich noch keinen Anhaltspunkt gefunden. Ich nehme an, dass es mit etwas Göttlichem, in jedem Fall etwas Luftgebundenem zu tun haben muss, denn der Körper wurde in der Horizontalen dem Himmel, etwas von oben Kommendem, dargeboten. Um die nächtliche Szenerie zu erhellen, hat der Täter Wachsfackeln eingesetzt. Und der Kornkreis sollte außerdem als weiteres sichtbares Zeichen dienen, denn er würde aus der Luft wahrgenommen werden können – wie die rätselhaften Maya-Linien auf den Hochebenen in den Anden. Natürlich brauchen wir noch eine VICLAS -Recherche. Wer Schwellen überschreitet, der muss bereits einige Schritte darauf zugegangen sein.«
Alex deutete auf Marcus’ Computer. Nur mit seinem PC war es möglich, sich in das Netzwerk VICLAS einzuloggen. Die vom BKA eingeführte Abkürzung stand für »Violent Crime Linkage Analysis System«, »Analysesystem zur Verknüpfung von Gewaltdelikten«. Eine riesige Datenbank von Verbrechen.
Schneider steckte sich eine weitere Zigarette an. »Das klingt schlüssig, Durchlaucht. Aber um dich mal aus der Kirche und der Welt der Luftgeister wieder auf den Boden zu holen, ich habe hier einen vorläufigen Bericht von Dr.Schröter.«
Marcus stand von seinem Sessel auf und setzte sich auf den Stuhl am Besprechungstisch neben Schneider, der ein zusammengefaltetes Fax aus der Brusttasche seines Hemds zog.
»Was unser Opfer angeht: Die Rechtsmedizinerin Dr.Woyta sagt, die Frau sei wahrscheinlich sediert gewesen, wie du vermutet hast, Alex, und ihr sei im bewusstlosen Zustand die Halsschlagader durchtrennt worden. Danach hat er ihr den Leib aufgeschnitten, wahrscheinlich mit einem Skalpell. Er hat buchstäblich ihr Innerstes nach außen gekehrt. Die Frau hat vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt. Wohl mit Kondom und
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