Alfons die Weihnachtsgans
ohnmächtig. Und das war seine Schuld. Der blöde Meier! Von einem Erwachsenen durfte man einfach verlangen, dass er einem half! Wäre nur Oma hier gewesen, die Krankenschwester war!
Tores Hände waren eiskalt, fast steif gefroren. Das Klebeband wollte auf den nassen Latten auch nicht halten. Vor Verzweiflung rannen Tore Tränen über die Wangen.
»Wo bleiben sie denn nur?«, fragte Opa mit leiser Stimme. »Sie müssten doch längst gemerkt haben, dass wir überfällig sind! Ich verstehe das nicht!«
Tore fiel ein Stein vom Herzen, weil der Großvater entgegenaller Erwartung doch wach war und vernünftig sprach. »Alfons kann die Hallig noch gar nicht erreicht haben«, erklärte er, sachkundig wie er war, und wischte sich verstohlen die Tränen ab. Endlich begann auch das Klebeband auf sich selbst zu haften, und der Fuß bekam einigermaßen Halt.
Opa Fedder seufzte. »Schlag es dir aus dem Kopf, dass dein Alfons uns helfen wird, Tore. Wie soll er sich denn mitteilen? Wenn überhaupt jemand ihn bemerkt, dann ist er nichts als eine Gans, die vor dem Schlachten aus einem Verschlag entkommen ist. Vielleicht fängt einer ihn ein und telefoniert morgen herum, um den Besitzer zu finden, bestimmt sogar bis nach Oland. Mehr wird nicht passieren. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass Alfons sich auf dem Watt verirrt und niemals auf Langeness ankommt.«
»Nein, bestimmt nicht! Alle Tiere können sich orientieren. Auch ohne GPS und Schienen!«
»Hm.«
»Horch doch mal!«, sagte Tore aufgeregt und zog sich die Mütze von den Ohren.
»Was ist?«
»Ein Motor! Ein Hubschrauber! Sie suchen uns mit dem Hubschrauber! Sie wissen Bescheid.«
»Unsinn«, hackte Fedder mühsam heraus.
»Der Junge hat recht«, rief Meier von drüben und konnte sich auf einmal so weit aufrichten, dass Tore ihn sah. Seine Kapuze hatte er abgestreift. »Sie holen uns ab. Der Service hier auf der Hallig ist ja doch ganz gut. In der Großstadt kannst du das Pech haben, dass der Krankenwagen im Stau stecken bleibt. Schätze, hier ist ein Stau eher selten.« Er lachte albern.
Es klang blöd. Tore gab sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Er lauschte gespannt. Der Motorenlärm kam näherund näher. Wäre es nicht so dunkel gewesen, hätte er gewiss die rot-weiße Bemalung des Rettungshubschraubers erkennen können, so sah er nur seine blinkenden Lichter.
Der Hubschrauber flog über sie hinweg, immer den Schienen nach. Das muss er, wo soll er hier im Watt schon hin, er würde im Matsch versinken, dachte Tore voller Zuversicht. Er wird auf dem Lorenplatz landen, und dann kommen sie zu Fuß, um uns alle abzuholen. Oder mit einer kleinen Lore, die schnell aus der Nachbarschaft organisiert wird. Von Hunnenswarf, natürlich. Und hoffentlich hatten sie eine Trage dabei. Eine halbe Stunde noch, dann würden sie im Warmen sein ...
Den Lärm hörte man noch lange, bevor er verklang. Das konnte keine Landung auf dem Lorenplatz gewesen sein. Irgendwie stimmte da etwas nicht! Wurden sie gar nicht gesucht? Tore schluckte einen Kloß der Enttäuschung hinunter.
»Das galt nicht uns«, keuchte Fedder. »Auf der Hallig ist etwas passiert. Oder sie fliegen nach Amrum weiter.«
Tore hatte große Mühe, seine Tränen zu unterdrücken. Wenigstens hielt der Knödelfresser jetzt den Mund. Er wäre sonst hinübergelaufen und hätte ihm wirklich in die Rippen getreten, so fest er konnte.
Nein, hätte er doch nicht. Dafür waren seine Beine viel zu steif.
Tore war jetzt so kalt, dass er kaum noch ein Glied bewegen konnte. Mit letzter Kraft stemmte er sich in die Höhe, wankte hinüber zur Lore und verkroch sich in ihrem Windschatten. Die Klappe des Kastens, aus dem er die Plane und das Werkzeug herausgeholt hatte, stand noch auf. Es roch nach Öl oder Benzin und anderen Treibstoffen. In ihrem Schutz ließ er endlich seinen Tränen freien Lauf.
Wie nur sollte er sie alle retten, wenn Alfons es nichtkonnte? Er spürte selber, dass er den Weg zur nächsten Warf nicht mehr schaffen würde. Als er noch nicht durchfroren war, hätte er losgehen sollen. Jetzt war es zu spät. Jetzt war alles zu spät ...
Kapitel 8
E ndlich hörte man in weiter Ferne den Hubschrauber. Anke, die inzwischen neben ihrer Tochter saß, atmete auf. An ihrem Zustand hatte sich nichts geändert. Sie kämpfte mit den Schmerzen und den Wehen, aber es ging nicht vorwärts.
Käte hatte der werdenden Mutter nach Rücksprache mit dem Arzt des Niebüller Krankenhauses ein Beruhigungsmittel gespritzt, und
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