Alfons die Weihnachtsgans
vergessen.
Vor sich sah er etwas Dunkles, das in die Höhe ragte. Einen Pfahl. Ein Pfahl, so weit draußen? Jedenfalls bewegte er sich nicht. Oder war es ein Seezeichen? Gab es hier etwa eine ausgeprickte Rinne? Dann musste er auf der Stelle umkehren. Dann begann hier die Gefahr.
Tore drehte sich noch mal um. Das Feuer war jetzt verschwunden. Erloschen, oder er hatte sich zu weit davon entfernt. Das hatte er nicht beabsichtigt. Immerhin gab es seine eigenen Spuren, denen er auf dem Rückweg folgen konnte. Sofern nicht das Wasser hinter ihm aufgelaufen war und ihn bereits vom Damm abschnitt. Im Haus seiner Großeltern hatte er schon schreckliche Geschichten gehört über Menschen, die sich im Watt verirrt oder seine Gefahren nicht ernst genug genommen hatten.
Ja, es war höchste Zeit zurückzukehren. Plötzlich fröstelte ihn wieder. Hätte er doch bei seinem Opa bleiben sollen? Wenn er jetzt nicht mehr zurückkam – was tat er Opa Fedder damit an?
»Tore?«, hörte er eine klägliche Stimme. »Tore, bist du es?«
»Herr Meier«, schrie er erleichtert und fing an zu rennen. Der Matsch spritzte ihm bis an die Knie. Kurz danach hatte er Opas nutzlosen Passagier erreicht.
»Ich wusste nicht mehr, wo es weiterging«, stammelte der Fotograf, der mitten in einer wassergefüllten Senke stand, obwohl sich direkt neben ihm noch im Trockenen liegender Sand befand.
»Kommen Sie! Wir müssen uns beeilen«, herrschte Toreihn barsch an. »Das Watt ist keine Spielwiese, sagt Opa. Ein Städter hat hier nichts verloren ohne Führer, bei Nacht schon gar nicht.«
Meier nickte zu jedem seiner Worte. »Jetzt habe ich ja einen Führer. Danke, Tore.«
Tore blieb fast die Spucke weg vor Wut. Erst musste er den Kerl suchen, und dann nahm der ihm noch durch seine unbedarfte Dankbarkeit den Wind aus den Segeln. Der wusste gar nicht, was er angerichtet hatte.
Mit fest zusammengekniffenen Lippen drehte Tore sich um und trat den Rückweg zum Lorendamm an. Nach kurzer Zeit leuchtete ihm das Feuer, das immer noch brannte, freundlich entgegen.
Mitten in den Schein ragte etwas Schwarzes. Ein Stein, der vorher noch nicht dagewesen war. Oder hatte er ihn in der Aufregung übersehen? Tore blickte sich kurz genug um, um sich zu vergewissern, dass Meier ihm folgte, zwar nicht gerade auf den Fersen, aber er kam mit. Tore hatte nicht das geringste Bedürfnis, sich um den Kerl besorgt zu zeigen. Gerade das wollte er doch!
Der Stein hatte seitliche Auswüchse. Sonderbar. Oder waren es Flügel? Tore stapfte schneller.
»So warte doch auf mich. Ich kann nicht so schnell!«, schrie Meier hinter ihm. Seine Stimme war auffallend gut zu Kräften gekommen.
Tore achtete nicht auf ihn. Er hatte ja nicht vor, wegzulaufen. Außer Atem sank er neben dem vermeintlichen Stein zu Boden. Es war eine kleine Ringelgans mit ausgebreiteten Flügeln. Tief unter dem Halsgefieder war sie noch warm, aber sie war tot. Die Augen starrten Tore an, und ihm war ganz unbehaglich zu Mute. Als ob sie ihm etwas mitteilen wollte.
»Lass doch das blöde Vieh liegen«, schimpfte Meier, der inzwischen herangekommen war. »Willst du es begraben? Wir haben ja wirklich Gescheiteres zu tun.«
»Der Puk«, stammelte Tore, dem endlich klar wurde, was die Gans ihm sagen wollte. »Sie hat einen Puken befördert, und irgendwo muss er sein. Der wird ertrinken, wenn ich ihn nicht finde.«
»Blödsinn«, schnaubte Meier und brach in ein hohles Gelächter aus. Tore sah zu ihm hoch. Etwas verfroren wirkte er, aber sonst war er so gut wie erholt. Jedenfalls im Vergleich zu Opa Fedder. »Wenn Sie mir suchen helfen, geht es schneller.«
»Du spinnst wohl!«
»Glauben Sie, Sie wären etwas Besseres als ein Puk?«, fragte Tore verächtlich und fing an, im Matsch um den toten Vogel herum umherzutasten. Wenn er auch unsichtbar war, fühlen musste er ihn doch wohl können. Ein Puk war wie ein Mensch, nur viel kleiner. »Erst wenn ich den Puken gefunden habe, gehen wir weiter.«
»Ich denke gar nicht daran, hier zu ertrinken! Zeig mir die Richtung zur Hallig, und ich mache mich allein auf den Weg«, befahl Meier.
»Sie wollen Opa und einen Puken im Stich lassen? Das habe ich mir genau so gedacht. Sie Feigling, Sie!«, hieb Tore heraus.
»Wenn man von Verrückten umgeben ist, rettet man sich besser allein. Ihr alle seid ja nicht ganz bei Trost, du, dein Opa und dein Onkel. Die ganze Familie! Puken und so weiter!«
Tore kroch auf Knien um die Gans. Nirgendwo ein Puk, nicht einmal seine
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