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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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jetzt hängt er frei und formlos herunter wie ein ausgeklopfter Teppich, der aus einem Küchenfenster baumelt.
    »Rasiermesser haben sie mir verboten, weißt du.«
    Überlassen wir es Ralegh, den Tenor seiner Gedanken auszulegen.
    »Das hatte ich mir schon gedacht, ja.«
    »Ich habe ihnen versichert, dass ich, sollte ich mich jemals selbst zerstören wollen, gewiss wirksamere Mittel fände als ein Rasiermesser. Wie du weißt, sind mir Gifte einigermaßen vertraut …«
    Und trotzdem war es kein exotisches Gift, das Ralegh drei Wochen zuvor gewählt hatte, sondern ein schlichtes Schnitzmesser, direkt aufs Herz zugetrieben – und aufgehalten nur von einer Rippe, die ihm im Weg stand. Raleghs Sekretär, Edward Hancock, war weit erfolgreicher beim Versuch, sich das Leben zu nehmen – vielleicht die größte Demütigung, die den großen Mann bis dato getroffen hat. Oder ist es eher ein widernatürliches Zeugnis seiner Lebenskraft? Dass er sich, sosehr er es auch will, nicht auslöschen kann?
    Die Wunde ist jetzt unter schwarzem Samt verborgen, und seinen Blick trübt ein Ausdruck von Apathie, als er sich zum Fenster wendet.
    »Bess und Wat, sie sind wohlauf?«
    »Sie sind Raleghs.«
    »Bald Raleghs ohne Dach über dem Kopf.«
    »Du hast viele Freunde, die sie aufnehmen werden.«
    »Feinde habe ich mehr, fürchte ich.«
    Er klopft die Asche am Herdstein aus der Pfeife.
    »Sie halten natürlich mich für schuldig an Essex' Tod. Sie behaupten, ich hätte mich mit anderen dazu verschworen.«
    »Dem ist nicht so.«
    »Das sagst du, weil du mich kennst, Tom. Der gemeine Mann kennt nur meinen Leumund.«
    Er legt die Pfeife hin. Erhebt sich mühsam auf die Beine.
    »Ich sollte dankbar sein, dass ich mir hier Bewegung verschaffen kann.«
    Man trägt Raleghs Rang auch insoweit Rechnung, als man ihm einen eigenen Spazierweg auf den Mauern zugesteht. Bei schönem Wetter kann er bis Greenwich sehen. Heute jedoch fällt ein steter Regen auf London, der zusammen mit dem Fluss und dem Nebel einen Vorhang vor den Tower zieht, sich aber teilt, sobald man ihn anrührt.
    »Ich fürchte, ich habe ordentlich Unheil angerichtet, Tom.«
    »Nicht durch frevlerisches Tun deinerseits.«
    »Dann brauche ich mich nicht zu verteidigen?«
    »Oh, mein Freund! Wie könnte ich dich solcher Infamie für fähig halten? Im Bunde mit Spanien? Dich gegen das Leben des Königs verschwören? Das ist eine Beleidigung für alle Vernunft.«
    »Und doch sind sie entschlossen, es zu beweisen. Da Beweise ihnen aber fehlen, werden sie selbst welche erfinden. Schon hat Cobham mich beschuldigt. Unter Folter werden andere Verschwörer es ihm nachtun.«
    »Du bist schon einmal als freier Mann durch das Löwentor hinausgegangen. Du wirst es wieder tun.«
    Der große Mann seufzt leise.
    »Lass gut sein, Tom. Sprechen wir über praktischere Dinge. Wie stehen meine Konten?«
    »Naturgemäß dezimiert, durch den Verlust deiner Schanklizenz. Und des Einkommens aus dem Gasthaus. Aber es hat auch sein … sein Gutes. Dadurch, dass du keine Pacht für deine verschiedenen Grundstücke begleichen musst, ergeben sich folglich auch – nun, weniger Belastungen für dein –«
    »Tom.«
    Sir Walter schneidet ihm das Wort ab. Streckt die beringte Hand aus.
    »Ich möchte nur sicher gehen, dass Bess und Wat nicht Hunger leiden.«
    »Darauf hast du mein Wort.«
    Ralegh blickt hinab auf den Fluss. Auf dem sogar jetzt Schiffe
mit ausgebreiteten Segeln durch den Regen gefahren kommen. Aus Holland, aus Schweden, Genua, Venedig, Frankreich. Aus Ländern, die er niemals sehen wird.
    »Bist du übers Wasser gekommen, Tom?«
    »Es war die einzige Möglichkeit. Die Stadt ist geschlossen.«
    Ralegh nickt.
    »Es heißt, die Pest dringe sogar in den Tower vor. Drei königliche Wächter sind in ebenso vielen Tagen hinausgeschafft worden. Vielleicht bleibt mir der Tanz mit des Seilers Tochter ja doch erspart. Und der Richtblock.«
    »Ich beschwöre dich, mein Freund. Sprich nicht so. Vergiss – bitte – nicht , dass deine Familie, deine Freunde dich fest in ihre Gebete einschließen …«
    »Und an wen richten sie ihre Gebete, Tom?«
    Sir Walters Augen sind nicht mehr schläfrig, sondern kühl und hell. Harriot wählt seine Worte mit großem Bedacht, als er erwidert:
    »An den Gott, der das Universum erschaffen hat. Der sogar jetzt unser Schiff auf Kurs hält kraft Seiner liebenden und ewigen Weisheit.«
    »Natürlich.«
    Sir Walters Stimme ist trocken wie Zunder.
    »Gleichwie, Tom, hast du mir

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