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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Besorgung: der Damastvorhang, den er an Eisenstangen an der Decke angebracht hat und der das Laboratorium in zwei Hälften teilt. Mit höflichem Nicken zieht er den Vorhang hinter sich zu. Sie ist allein.
    Eine volle Minute vergeht, bevor sie sich rühren kann. Und sogar dann traut sie sich nur die einfachsten Handgriffe zu.
    Eine Bleistange nehmen.
    Die Stange in eine Glasflasche geben.
    Die Flasche in die Halterung über das Kohlenbecken stellen.
    Kohle anzünden.
    Warten.
    Die Veränderung geschieht anfangs allmählich, fast unsichtbar. Das Blei beginnt zu schwitzen, es bildet sich eine dünne Haut. Dann quillt eine silberne Blase hervor. Das Blei schimmert, blubbert … bis mit bestürzender Jähheit eine rote Flamme aufblitzt, die im nächsten Augenblick erstirbt und von der ein Überzug aus spröder Asche zurückbleibt. Nach diesem kurzen Ausbruch zieht das Blei sich in sich selbst zurück, und keine egal wie große Erwärmung vermag es wieder hervorzulocken.
    Mit ihren Kattunhandschuhen hebt Margaret die Flasche von der Kohle und sieht hinein. Schwarz. Die Farbe des Scheiterns, so viel weiß sie. Ein Zeichen dafür, dass das Mindere nach kurzem Liebäugeln mit dem »anderen« wieder nur minder ist.
    Und doch ist es nicht das Schwarz, das ihr im Gedächtnis haften bleibt. Es ist das aufblitzende Rot. Das lässt sie am nächsten Abend an den Tisch zurückkehren: die Möglichkeit, es noch einmal zu sehen und es dazu zu bewegen, ein kleines bisschen länger zu verweilen und noch ein kleines bisschen, bis es in eine Spirale der Transformation eingebunden ist, die alle Farben des Regenbogens durchläuft.
    Sie experimentiert mit der Temperatur: einmal erst geringe, dann ungleichmäßig erhöhte Hitze, ein andermal eine höhere
Anfangstemperatur und längere Abkühlungsphasen. Sie verändert die Positionen von Flasche und Flamme. Verwendet einen Schraubstock, um verschieden starken Druck auf das Blei auszuüben. Probiert es mit unterschiedlichen Kohlesorten: mit Glanzkohle, mit Fettkohle. Das Rot will sich partout nicht mehr zeigen.
    Harriot hatte zu Beginn angenommen, sie würde den alchemistischen Studien nur eine Stunde pro Nacht widmen und ihm in der übrigen Zeit bei seinen optischen Versuchen assistieren. Aber sie kann sich von Mal zu Mal schwerer losreißen. Eines Nachts ruft er dreimal ihren Namen, ohne dass sie ihn hört. Schließlich muss er das Gesicht durch den Vorhang stecken und mit gespieltem Ernst sagen:
    »Meine liebe Miss Crookenshanks, es ist mir eine große Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass ich die Messung des Brechungswinkels von braunem Mörtel vornehmen werde …«
    Normalerweise lächelt Margaret dann. Heute wirkt sie wie aus dem Tiefschlaf gerissen.
    »Natürlich.«
    Ihr Zögern bleibt ihm nicht verborgen. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Er sagt:
    »Ach, warum solltest du nicht mit deiner Arbeit fortfahren?«
    »Bist du ganz sicher?«
    »Ich möchte mich dem Fortschritt nicht in den Weg stellen …«
    Ohne es zu wollen, ja, ohne es zu bemerken, zweigt sie Tag für Tag mehr Zeit ab für ihre eigenen Experimente. Er beklagt sich nicht. Er wird um ihretwillen sogar fast unerträglich beflissen, geht auf Zehenspitzen im Zimmer umher.
    »Entschuldige, meine Liebe. Ich hab den Schuhanzieher fallenlassen …«
    Und wenn er sich nicht entschuldigt, ersinnt er Ausflüchte und absentiert sich.
    »Ein kleiner Spaziergang sollte den Kopf freimachen …«
    Einmal ist er über eine Stunde weg. Und obwohl er bei seiner Rückkehr stets guter Dinge ist, bleibt ihr nicht verborgen, wie aufgesetzt diese Heiterkeit ist.
    »Ist es geglückt, Margaret? Nein? Nun, fahre fort.«
    Doch so sehr sie sich auch müht, ihr Glück will sich nicht wenden. Kein Tag vergeht ohne verbrannte Finger, verbrühte Handgelenke, angesengte Brauen. Flaschen explodieren. Kochendes Pech flämmt die Wände, frisst sich durch Dielenbretter. Rätselhafte Gase stechen ihr in der Nase, brennen ihr in der Kehle.
    Und was hat sie im Gegenzug vorzuweisen? Klumpige Schlacken, die weder erden noch durchsichtig sind. Bröckchen von nichts.
     
    Eines Abends findet Harriot sie, als er heimkommt, in größter Verzweiflung. Sie starrt auf ein geborstenes Gefäß und schwarze Lava, die sich über den Arbeitstisch ausgebreitet hat.
    Er sagt nichts, greift nur mit betonten Gesten mitten hinein in die Flaschenreste.
    »Vorsicht!«, ruft sie. »Du verbrennst dich.«
    »Ah, was haben wir denn da?«
    Mit spitzbübischem Lächeln zieht er einen

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