Algebra der Nacht
sie es früher gewesen ist, als seine Haut und sein Leib ihre volle Aufmerksamkeit fanden. Jetzt lösen Reflexe ihre Reaktionen aus, und obwohl sie sich bemüht, ihre Ge
fühle zu verbergen, fühlt er sie. Eines Nachts fragt er mit mehr als nur einer Spur von Bitterkeit:
»Was kann es nur sein, dass dich so beschäftigt? Visionen von aurum ?«
Gold? – Nein, gar nicht, möchte sie ihm sagen. Eine Tafel.
Und an dieser Tafel Aristoteles und Aquin, Kepler und Kopernikus, Bruno und Tycho Brahe – und Thomas Harriot –, alle zu einem Abendessen versammelt. Und da ist der Platz, der für sie freigehalten wurde, aber wie soll sie es anstellen, sich da niederzulassen? Was hat sie , Margaret Crookenshanks aus St. Helen's Bishopsgate, getan, ihn zu verdienen?
Das ist die bitterste Ironie: sie, die ihm würdig zu sein trachtet, treibt ihn dadurch immer weiter von sich fort.
Er bittet nicht mehr um Entschuldigung, wenn er Lärm macht.
Er bleibt ihretwegen nicht mehr wach.
Er ist immer schon auf den Beinen, wenn sie aufsteht.
Sie merkt es nicht mehr, wenn er den Kopf durch den Vorhang steckt.
Je öfter ihr etwas misslingt, desto verbissener macht sie weiter, und desto mehr tritt die übrige Welt in den Hintergrund. Wenn sie nicht im Laboratorium arbeitet, versenkt sie sich in hermetische Schriften, denn für sie ist es ein Glaubensartikel, dass die heutigen Alchemisten lediglich die verlorene Kunst der Alten wiederentdecken, die hinter fast unendlich vielen Schleiern von Symbolen und Allegorien verborgen ist.
Und so geht sie das Alte Testament und die Apokryphen durch. Ovids Metamorphosen. Die alten Mythen von König Midas, von Jason und den Argonauten, von Herkules und seinen zwölf Aufgaben. Aber so sehr sie sich auch plagt, die Worte schauen nur schweigend zurück.
Anfang Juli nimmt sie sich das Quecksilber vor. Mit Folgen, die sich zwar erst nach und nach zeigen, aber gravierend sind. Sie verliert zwei Backenzähne. Schüttellähmung erfasst ihre Hände. Jeden Morgen findet sie auf ihrem Kopfkissen büschelweise Haar.
Die Dämpfe machen ihr am meisten zu schaffen. Eines Nach
mittags beobachtet sie das letzte Stadium der Verdunstung, da schießt eine Gaswolke aus der Flasche und hüllt sie rundherum ein. Alle Nerven in ihrem Körper bleiben stehen wie eine Uhr.
»Margaret!«
Harriot kniet über ihr. Sie hat gerade noch so viel Geistesgegenwart, ihm zuvorzukommen.
»Ich bin wohlauf.«
Sie erhebt sich. Klopft sich die Schürze ab und kehrt nach einem letzten Taumel direkt an den Tisch zurück.
Harriot schaut ihr ein Weilchen zu. Dann verschwindet er hinter dem Vorhang.
Tags darauf kommt sie am Nachmittag herunter und findet Harriot in Reisekleidung. Es ist ein Zeichen dafür, wie die Dinge zwischen ihnen stehen, dass er im Begriff ist, sich allein aufzumachen, und dieser Anblick sie nicht überrascht und beunruhigt. Sie fragt nur aus Höflichkeit:
»Wohin gehst du?«
»Einen Freund besuchen.«
43
E inen Trost immerhin gibt es: Walter Ralegh hat schon schlechtere Unterkünfte gesehen.
Seine derzeitige Zelle ist ja doch größer als eine Schiffskajüte. Und sie ist allemal komfortabler als die guyanischen Wälder, in denen Ralegh so manche Nächte verbracht hat und wo es von Insekten wimmelte. Sie ist nicht so gefährlich wie Cadiz. Und sie ist dem Kern der Dinge näher als Munster oder die Insel Jersey. Die Belüftung ist gut, Truhe und Tisch sind zweckmäßig, und wenn der Strohsack nicht ganz so üppig ausgefallen ist, welches Bett war je groß genug für Sir Walter?
Ja, denkt Harriot, wenn einen der drohende Tod nicht bekümmerte, könnte man es weit schlechter treffen als mit dem verfluchten Tower.
Sir Walter fuhrwerkt mit einem Zahnstocher aus Süßholz im Mund herum.
»Ich hoffe, das Mahl sagt dir zu, Tom.«
Kaninchenbraten. Hammelschulter. Gekochtes Huhn mit Lauch und Champignons. Zwei Gläser italienischer Vernaccia.
»Ja.«
»Du hast doch deine Pfeife mitgebracht, hoffe ich.«
Sie lassen sich am Feuer nieder – sogar im Hochsommer ist es im Tower schneidend kalt –, und Raleghs Diener zündet ihnen den Tabak an. Sie paffen schweigend und mit nicht geringem Wohlbehagen. Für ein Weilchen könnten sie glatt meinen, sie wären wieder in Sherborne.
Gäbe es da nicht ein beunruhigendes Detail: Raleghs Bart.
Der früher immer so ordentlich gestriegelt war und der stets mit derselben feinen Spitze endete und zwar ohne Beihilfe der Brenneisen, die andere Herren bevorzugen. Und
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