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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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sagte ich halb zu mir selbst.
    »Ein Motiv wofür?«
    Jetzt fiel mir ein, dass ich ihr noch nichts von meiner Begegnung mit Styles erzählt hatte. Ich zog die Kopie von Raleghs Brief aus meiner Hemdtasche. Faltete sie auseinander und legte sie auf den Tisch.
    »Das hab ich noch nie gesehen«, flüsterte sie. »Bist du sicher, dass Alonzo das genommen hat?«
    »Styles behauptet es zumindest.«
    »Aber das – Alonzo? Niemals. Nein.« Sie lehnte sich zurück. »Ich verstehe das nicht, Henry.«
    »Ich auch nicht. Aber angenommen, dieses Dokument ist echt – wie viel würde es derzeit auf dem Markt bringen? Fünfzigtausend? Sechzig?«
    »So in etwa«, sagte sie matt. »Mehr oder weniger.«
    »Und warum bietet Bernard Styles mir dann doppelt so viel, um es zurückzubekommen?«
    »Ich weiß nicht …«
    Ihre bleichen Wangen fielen ein, die Augen flackerten.
    »Hätte ich doch bloß …«
    Und jetzt brach die Trauer, die sie so mühsam zurückgehalten hatte, mit aller Macht hervor. Fühlte sie sich, frage ich mich, durch meine Gegenwart getröstet? Weil ich zu den Männern gehöre, die angesichts der Tränen einer Frau vollkommen hilflos werden? Ich konnte ihr nur meine Serviette hinschieben und murmeln:
    »Ich weiß. Ich weiß.«
    »Nein«, antwortete sie schroff. »Du weißt nichts.«
    Sie nahm die Serviette und rieb sich heftig das Gesicht ab. Mir fiel plötzlich ein, dass Alonzo ihr vor vielen Jahren einen Heiratsantrag gemacht hatte. Zum ersten und wahrscheinlich letzten Mal in ihrem Leben hatte sie ihm etwas verweigert. Hinterher waren sie beide sehr erleichtert.
    Immerhin war sie nach kaum einer weiteren Minute fertig mit dem Weinen. Weitere fünf Minuten, und ihre Augen waren nicht mehr gerötet. Als ihr Negroni kam, stürzte sie ihn hinunter und bestellte ein Hummersandwich; als sie es zur Hälfte aufgegessen hatte, war sie der Heiterkeit gefährlich nahe. Sie strich sich über
das strohige Haar, spähte übers Geländer, verzog den Mund und sagte:
    »Ein Freund von dir, Henry?«
    Ich folgte ihrem Blick nach unten in die Halle. Zu einer dorischen Säule, vor der ein großer Mann in einem schwarzen Vikunja-Jackett stand und zu uns heraufstarrte. Nur eins hatte sich an Halldors Erscheinung geändert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte: das T-Shirt. Die Aufschrift war noch aus dreißig Metern zu erkennen: Freedom Rocks .
    Offenbar machte es ihm nichts aus, dass er entdeckt worden war. Vielmehr schien er geradezu erfreut, denn er nickte uns freundlich zu. Stumm wie immer wandte er sich ab, schlug den Kragen hoch und mischte sich ohne Eile in den Strom der Leute, die auf dem Weg zum Amtrak-Bahnhof waren.
    »Einer von Styles' Leuten?«, fragte Lily.
    »Richtig.«
    Wir sahen ihm nach. Und blieben noch zwei, drei Minuten schweigend sitzen.
    »Henry«, sagte Lily schließlich. »Darf ich dir einen freundschaftlichen Rat geben?«
    Inzwischen machte sich der zweite Negroni bemerkbar. Der Wermut zog die Silben in die Länge.
    »Leg dich nicht mit reichen Sammlern an.«

 

    5
    Z ehn Sekunden Google-Recherche, und schon hatte ich den Nachruf aus dem Daily Telegraph:
     
    Cornelius Snowden starb am 3. Dezember im Alter von 66 Jahren. Der Antiquar und Sammler wurde durch seine exzentrischen Geschäftspraktiken bekannt und beschäftigte sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Werk des elisabethanischen Historikers John Stow.
     
    In zwei knappen Zeilen wurde auf die Umstände von Snowdens Tod verwiesen ( Die Polizei ermittelt noch ), und im vorletzten Absatz kam kein Geringerer als Bernard Styles persönlich zu Wort:
     
    »Cornelius' Leidenschaft für den Kodex war überaus ansteckend und für viele von uns eine wichtige Inspiration. Er wird uns unendlich fehlen«
     
    »Und ich werde seine Erstausgabe bis an mein Lebensende in Ehren halten«, sagte ich laut.
    Just in dem Augenblick machte mein Telefon lautstark auf sich aufmerksam, und als ich den Hörer aufnahm, quoll mir Bernard Styles' beschwingter Bariton ins Ohr.
    »Mr. Cavendish! Wie stehen unsere Angelegenheiten?«
    Er war so präsent, dass ich hätte schwören können, er stünde leibhaftig neben mir. Und spähte mir über die Schulter.
    »Ich komme voran«, sagte ich. »Aber … Verzeihung, habe ich Ihnen meine Privatnummer gegeben?«
    »Nein, gewiss nicht.«
    »Sie steht nicht im Telefonbuch, deshalb frage ich.«
    »Das wird schon seinen guten Grund haben. Aber erzählen Sie. Haben Sie einen Hinweis auf mein armes kleines Dokument gefunden?«
    »Oh!«

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