Algebra der Nacht
– ich meine, wir …«
»Unter vier Augen wäre besser.«
»Das Problem ist nur, ich bin in DC .«
»Ich auch.«
Ich setzte mich mit großer Mühe auf. »Das wusste ich nicht.«
»Sind Sie zu Hause, Henry?«
»Ähm …« Ich fuhr mir übers Gesicht. »Gewissermaßen.«
»Und wo ist das?«
»Kennen Sie Capitol Hill?«
»Sicher. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich gern bei Ihnen vorbei.«
Ich hielt kurz inne und betrachtete das Gemetzel um mich herum. Alonzos Papiere, die könnte ich immerhin zu Stapeln aufhäufen. Die Leichenberge von Fliegen vor den Fenstern … die konnte ich doch auffegen, oder? (Ich schob es schon seit zwei Wochen vor mir her.) Aber gegen das Todesröcheln des Kühlschranks und die grünen Flecken an der Wohnzimmerwand konnte ich so schnell nichts tun. Ebenso wenig wie gegen die toten Ratten, die hinter den Fußleisten in der Kochnische ein rauchiges Aroma verströmten.
»Hören Sie?« sagte ich. »Die Putzfrau ist gerade hier, und der Staubsauger kann ziemlich laut werden, wenn sie mal loslegt. Wir könnten uns doch irgendwo treffen? Morgen oder –«
»Vielleicht kennen Sie das Bullfeathers«, sagte sie.
»Klar.«
»Treffen wir uns dort. Um zwölf. Ich bestelle uns einen Tisch.«
Sie legte auf, bevor ich etwas sagen konnte.
Ich schielte auf meinen Radiowecker. Vierzig Minuten, ein Mensch zu werden.
Die Dusche half. Das Rasieren auch. Aber ich roch immer noch nach Evan Williams, also verschlang ich eine Handvoll Pfefferminzdragees, betupfte mir die Handgelenke mit Mundwasser und sprühte sicherheitshalber Febreze auf eins meiner zwei guten Oxford-Hemden.
Fünf nach zwölf kam ich im Bullfeathers an. Ein befremdlicher Treffpunkt, dieser mittelmäßige Burgerschuppen mit altertümlicher Ausstattung, den hauptsächlich Angestellten am Capitol Hill und Lobbyisten besuchten, gelegentlich auch Touristen, die ihre hitzegeplagten Leiber von der Mall hier hineinschleppten.
In dieser Umgebung war Clarissa leicht zu erkennen. Sie trug ein gelbes Sommerkleid, hatte einen Platz an der Wand gewählt und sah mich so konzentriert an, wie sie sich auch am Telefon angehört hatte.
»Henry«, sagte sie.
Meine Hand erstarrte auf dem Weg zu ihrer.
Es war die Frau von Alonzos Gedenkgottesdienst.
Dort hatte ich sie nicht vollständig wahrnehmen können. Sie
war ein bisschen älter, als ich gedacht hatte – einunddreißig, zweiunddreißig. Bei Tageslicht hatte ihre helle Haut mehr Sommersprossen, und ihr schwarzes Haar war wesentlich wirrer – ein Gewimmel von in alle Richtungen strebenden Spitzen. Und die Augen hatten nicht die Farbe von Karamell, sondern von etwas, das viel länger im Topf geschmort worden war.
Oder Ebenholz, dachte ich, als mir plötzlich die Worte des Königs von Navarra in den Sinn kamen. Schwarz wie Ebenholz … Des Kerkers Farbe …
Und damit war ich wieder mit Alonzo im Annex, und das Thema unseres Gesprächs kam wie ein träger Pfeil auf mich zugeflogen.
»Die Schule der Nacht«, flüsterte ich.
»Genau«, sagte Clarissa Dale.
6
D ie Sache verhielt sich folgendermaßen. Alonzo Wax ging im Schnitt ein- bis zweimal pro Jahr pleite. Dabei zeigte sich stets ein gewisses Muster. Alonzo verkaufte etwas aus seinen Beständen (mit bescheidenem Gewinn, aber mit großen Verlustgefühlen). Er stieg von Grey Goose auf Svedka um, aß nicht mehr bei Chef Geoff's, sondern in einem koreanischen Imbiss und war, das war das Entscheidende, eher geneigt, Einladungen zu Vorträgen anzunehmen, die sonst im Ofen gelandet wären.
Das blieb den Bibliotheken und Autorenworkshops, den genealogischen Gesellschaften und Senioreneinrichtungen, die alle nach ihm lechzten, nicht verborgen. Schnell sprach sich herum, dass Alonzo Wax, der landesweit bekannte Sammler und Gelehrte, zu haben war. Wenn man seine Reisekosten übernahm. Und ein Honorar und eine Gratismahlzeit drauflegte. Und mit dem Wein nicht knauserte.
Irgendjemand ließ sich immer auf diesen Handel ein. Und so kam es, dass Alonzo an einem Donnerstagabend im Februar 2009 vor dem Civitan Club in St. Augustine, Florida, eine Rede hielt.
Clarissa meinte, ungewöhnlicher als seine Anwesenheit dort sei nur noch ihre Anwesenheit gewesen. Rein zufällig hatte sie einen Aushang in einem Laden gesehen und den Vortrag dann beinahe noch verpasst, weil sie im entscheidenden Moment auf der San Marco Avenue falsch abgebogen war. Sie kam eine Viertelstunde zu spät und drückte sich in die letzte Reihe, aber selbst dorthin drang
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