Algebra der Nacht
Ich wandte mich vom Computer ab. »Tut mir leid, Alonzos Nachlass nimmt mich doch sehr in Beschlag. Als Treuhänder hat man zahlreiche Verpflichtungen …«
»Selbstverständlich.«
»Aber früher oder später muss ich ja darauf stoßen. Ich bin da ganz zuversichtlich.«
»Nun …« Ein trockenes Kichern. »Das hört man gern, Mr. Cavendish. Leider ist meine Zeit hier ziemlich begrenzt.«
»Ja, ich verstehe.«
»So reizend Ihre Stadt auch sein mag.«
»Natürlich.«
Es folgte Schweigen, drei, vier Sekunden lang, und ich fragte mich schon, ob die Leitung unterbrochen worden war – aber dann war Styles zurück.
»Ich rufe morgen wieder an, ja?«
»Ich kann auch Sie anrufen, falls Sie –«
»Bedaure, ich muss jetzt auflegen. Ich habe Halldor versprochen, dass er nach Mount Vernon fahren darf. Auf geht's, Mr. Cavendish!«
Auf geht's.
Als ich den Hörer auflegte, stach dieses Wort mich wie eine Nadel. Ich hatte Bernard Styles' Geld genommen – einen kleinen Teil davon bereits ausgegeben – und noch kaum etwas dafür getan. Ich hielt weder die Augen offen, noch verfolgte ich irgendwelche Spuren, ich wartete einfach, dass das bewusste Dokument mir aus den Wolken vor die Füße fiel.
Nun, eins konnte ich tun. Ich konnte an dem Ort suchen, wo das Dokument wahrscheinlich war: in Alonzos Wohnung. Den Schlüssel hatte ich ja. Nur nicht die Lust und die Kraft, in Alon
zos Sachen herumzuwühlen, seinen Geruch wahrzunehmen, der aus Haufen schmutziger Kleidung stieg, zu spüren, wie mich sein Geist von Raum zu Raum trieb. Das war zu viel für mich. Ich brauchte Unterstützung.
Also rief ich Lily an. Aber mein Anruf landete auf ihrer Mailbox. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr eine Nachricht zu hinterlassen und sie zu bitten, sich am nächsten Tag mit mir in Alonzos Wohnung zu treffen.
»Um eins, wenn das passt. Ruf mich zurück!«
Ein Tag Aufschub. Und ich hatte in der Zwischenzeit weiß Gott genug zu tun. Alonzos papierne Gebäude begannen mir zuzusetzen. Darin verbarg sich vieles: Drohbriefe und Projektskizzen und querulatorische E-Mail-Kettenbriefe und belanglose Problemchen und der ganze andere klebrige Schutt eines Menschenlebens.
Schulden, vor allem. Berge von Schulden.
Mindestens drei Hypotheken, soweit ich das überblickte. Kreditkarten, Baudarlehen. Ausstehende Löhne (arme Lily). Offene Rechnungen von Dermatologen, Reiseagenturen und Prosecco-Importeuren sowie, Alonzo bereits dicht auf den Fersen, ein kleiner Trupp Inkassobüros, die vergeblich ihre Muskeln spielen ließen. Es fand sich kaum eine Branche, der Alonzo Wax nicht irgendeine Kleinigkeit schuldig war.
Was die Habenseite betraf – das war nicht so leicht auszuknobeln. Von seiner Großmutter hatte Alonzo eine bescheidene Leibrente geerbt, die, sagen wir, für eine mietpreisgebundene Junggesellenwohnung in der Connecticut Avenue gereicht hätte. Alonzo aber hatte sich eine Doppelsuite in Cathedral Heights genehmigt, die er mit einem eigenen Tresor ausgestattet hatte. Praktisch sein gesamtes Kapital – sein Leben – war in Büchern gebunden, und wenn er versucht hatte, Geld hereinzuholen, dann hatte er das stets dadurch bewerkstelligen wollen, dass er noch mehr Geld hinauswarf.
Mehr als einmal fragte ich mich, ob ich durch meine Ernennung zu seinem Nachlassverwalter vielleicht so etwas wie eine karmische Schuld für Sünden aus meiner Vergangenheit abzu
arbeiten hatte. Besonders, als ich spätabends einen braunen Umschlag fand, auf den mit schwarzem Filzstift mein Name geschrieben war.
HENRY
Darin befand sich lediglich ein Blatt Papier. Mit drei Namen. Der erste: meiner.
Der zweite: Amory Swale . Daneben eine Nummer mit einer 252-Vorwahl, North Carolina also. Den Anschluss gab es nicht mehr, wie ich wenige Minuten später feststellen musste.
Blieb der dritte Name, der sich seltsam auf den zweiten reimte: Clarissa Dale .
Vorwahl 904, wo immer das sein mochte. Ich rief am nächsten Morgen an, und sie meldete sich fast auf der Stelle, glockenhell und präzise, als habe sie schon auf den Anruf gewartet. Und das hatte sie wohl auch, denn als ich ihr meinen Namen nannte, sagte sie:
»Ich habe Sie erwartet.«
Ich erklärte ihr, dass ich dabei sei, mir Klarheit über Alonzos Vermögensverhältnisse zu verschaffen. Erklärte, ich hätte ihren Namen in seinen Unterlagen gefunden und würde gern wissen, ob sie in den Tagen vor seinem Tod mit ihm zu tun gehabt habe.
»Wir sollten reden, Henry.«
»Tun wir das nicht gerade
Weitere Kostenlose Bücher