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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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Alonzos Stimme. Die sie buchstäblich berührte.
    » Das unterdrückte Unbewusste des elisabethanischen Zeitalters «, sagte er gerade.
    Als Neuling in Alonzos Welt konnte sie nicht wissen, dass er dieses Thema bereits seit Studententagen beackerte. Für ihn war die Schule der Nacht der psychische Schatten des England der Tudorzeit. Wenn sie in Sherborne aus den Bleiglasfenstern schauten, sahen Ralegh und die anderen großen Gelehrten den Schrecken bei helllichtem Tag durch die Lande ziehen. Sie sahen mörderische Intrigen und vom Staat unterstützte Folter. Katholiken wurden hingerichtet, abweichende Meinungen brutal unterdrückt. Und diese Schrecken gingen einher mit einem ungeheuren sorgenschweren Schweigen – nur in Sherborne wurde das Schweigen gebrochen. Nur zur schwärzesten Stunde der Nacht konnte die Morgensonne der Wahrheit aufgehen.
    » Aus der Nacht kam das Licht «, berichtete Alonzo dem Civitan Club.
    Und auch für Clarissa ging gewissermaßen die Sonne auf. Die Leute links und rechts von ihr zerschmolzen, erzählte sie. Die Welt löste sich auf. Zurück blieben nur sie und Alonzo und das unsichtbare Band, das sich um sie beide schlang.
    Und deshalb tat Clarissa Dale etwas, was sie noch nie getan hatte, weder in der Grundschule noch in der Highschool oder am College. Sie blieb nach Ende des Vortrags.
    »Ich wollte ihm meine Eindrücke schildern«, sagte sie.
    »Und wie hat er darauf reagiert?«
    »Sie meinen, ob er schreiend weggelaufen ist?«
    Ihren Vokalen haftete eine zarte Louisianafärbung an. 
    »Eigentlich war er ganz höflich«, sagte sie. »Weiß Gott, warum, so wie ich auf ihn eingeredet habe. Er hatte die ganze Zeit so ein komisch angesäuseltes Lächeln im Gesicht. Erst dachte ich, er freut sich, aber dann wurde mir klar, dass bloß seine Lippen so geschwungen sind.«
    »Ein Geschenk der Natur«, stimmte ich zu.
    Und dann beging ich den Fehler, den Blick auf meinen Cheeseburger zu senken. Keine Ahnung, warum ich den überhaupt be
stellt hatte; schon der Anblick war mir so zuwider, dass ich meine Serviette darüber breiten musste.
    »Danach«, sagte Clarissa, »wechselten wir ein paar freundliche E-Mails, und er schickte mir einige interessante Artikel. Und diesen Mai – am zwölften Mai – sprach er mir eine seltsame Nachricht auf die Mailbox. Die Schule der Nacht  …«
    »… ist wieder zusammengetreten «, tönte ich matt.
    »Sie haben dieselbe Nachricht bekommen.«
    »Ja.«
    »Tja«, sagte sie, »und da sind wir nun.«
    Ihre Lippen bebten – Beginn eines rasch unterdrückten Lächelns. Aber es reichte, das natürliche Rot ihrer Lippen hervorzuheben.
    »Okay.« Ich riss mich zusammen. »Eins verstehe ich trotzdem noch nicht. Warum sind Sie überhaupt zu Alonzos Vortrag gegangen? Sind Sie …«
    Schon als ich die Frage stellte, schrak ich vor der möglichen Antwort zurück.
    »Sind Sie vom Fach?«
    Ein mürrischer Zug trat in ihr Gesicht. »Was für ein Fach?«
    »Englische Literatur. Oder – Geschichte. An einer Uni oder so.«
    »Oh!«, rief sie. »Gott, nein! Ich bitte Sie!«
    Und jetzt lächelte sie wirklich. Wie soll ich beschreiben, was das für eine Veränderung bei ihr bewirkte? Sie wurde, so könnte ich sagen, gewissermaßen durchscheinend, ihre Züge entspannten sich. Nein, es war noch mehr. Aus diesem Lächeln trat das Gesicht einer völlig anderen Frau hervor. Die freilich schon die ganze Zeit da gewesen war.
    »Bücher haben mich nie besonders interessiert«, sagte sie. »Ich habe Betriebswirtschaft studiert, an der Central Florida. In meinem ganzen Leben habe ich, glaube ich, nur ein einziges Shakespeare-Stück gesehen. Richtig peinlich, wie ungebildet ich auf dem Gebiet bin.«
    »Und warum sind Sie dann da hingegangen?«
    »Tja, das ist schwer zu erklären.« Sie fuhr mit der Gabel durch
ein Gewirr von Salatblättern und Blauschimmelkäse. »Ich glaube, Alonzos Thema geht mich persönlich etwas an.«
    »Ach?«
    »Na ja«, sagte sie. »Die Sache ist die: Ich habe es selbst gesehen.«
    »Was gesehen?«
    Die Haut um ihre Wangenknochen begann rosa zu schimmern.
    »Ich habe die Schule der Nacht gesehen«, sagte sie.
    »Sie meinen … auf einem Bild?«
    »Im Geiste. Wie im Traum, nur dass ich nicht träume.«
    »Geschieht das öfter?«
    »Sie machen sich keine Vorstellungen, Henry.«
    Achselzuckend griff sie wieder nach ihrer Gabel und schob etwas Käse zusammen. Schon bei dem Anblick drehte sich mir der Magen um.
    »Und wie lange geht das schon so?«, fragte ich. »Diese

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