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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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und lassen sich an Ort und Stelle nieder. Sie fallen direkt ins kühle nasse Gras.
    Von da ist es eine Sache von Sekunden, bis sie sich in den Armen liegen. Und ist es nicht recht und billig? Haben Sie nicht gegen den Tod gewettet und gewonnen?
    In ihrem Hochgefühl sehen sie einander wie eine neue Offenbarung an. Und der Reiz ihres ersten Zusammenseins kehrt dreifach gesteigert zurück. Die Welt lässt sie in Ruhe.
    »Virginia«, murmelt er.
    Sogar im Dunkeln sieht er, wie ihre Haut wieder Farbe bekommt.
    »Nicht, Tom.«
    »Aber es gefällt mir.«
    »Mein Vater hat es so gewollt. Er träumte davon, mich eines Tages der Königin vorzustellen. Es war albern von ihm …«
    Harriot legt den Zeigefinger auf ihre Lippen. Küsst die Senke direkt über ihrem Schlüsselbein.
    »Virginia.«
     
    Beim Aufwachen hat er Tau auf dem Gesicht. Ein Schmetterling kreist über ihm. Auf der Weide frisst ein Kaninchen Brombeeren. Schwäne schaukeln auf dem Wasser. Von Westen weht der Ton einer Laute herüber. Sie schläft auf seinem Arm. Harriot beneidet niemanden.
     
    Nach der Entlassung der Gollivers haben sie das Haus jetzt für sich allein. Sie fallen ins Bett, verdösen den Vormittag. Nach dem Mittagessen steht Margaret auf und holt Wasser aus dem Brunnen, heizt den Küchenherd. Sie zieht ihr Unterkleid aus und schickt sich frohen Herzens an, sich London vom Leib zu schrubben.
    Eins aber geht beim Schrubben nicht ab: der Rußfleck an ihrer linken Schulter, ungefähr so groß wie ein Silberpenny. Er bleibt seltsam widerspenstig, wie sehr sie ihn auch bearbeitet.
    Sie berührt die Stelle mit dem Finger. Es ist kein Ruß, sondern etwas, was von unten aufsteigt. Etwas, was gestern Abend noch nicht da war.
    Ihre Haut erkaltet bis hinunter zu den Füßen. Aber der Schrei, den sie hört, ist nicht ihr eigener. Harriot steht an der Küchentür und betrachtet das Mal auf ihrer Schulter.
    Im nächsten Moment ist er, wo er stand, auf die Knie gesunken, und die Schluchzer brechen in einem fort aus ihm hervor. Sie muss die Arme um ihn breiten aus Angst, dass er in Stücke geht.
     
    Das Fieber kommt in dieser Nacht. Es kommt mit Macht und geht genauso wieder fort. Sie zieht sich die Decke abwechselnd fest um den Leib und wirft sie zornig fort. Und er … was kann er
tun, außer ihr die Stirn zu befeuchten oder zu trocknen, je nachdem, was nötig ist, ihr ins Ohr zu flüstern, ihr zu versichern, dass sie wieder gesund wird … bald … bald  …
    Und als sie sich mit dem ganzen Leib aufbäumt und umherwirft wie eine Wahnsinnige, hält er sie fest, bis sie erschöpft ist, und bettet sie dann wieder aufs Kissen.
    Ihr Hals, ihr Unterleib und ihre Unterarme sind jetzt ein Quell quälenden Schmerzes. Messer raspeln unter ihrer Haut. Schon der flüchtigste Blick von ihm foltert sie. Was er tun möchte, kann er nicht. Sogar den Mohnsirup, den er ihr gegen die Schmerzen einflößt, erbricht sie gleich wieder. Sie krümmt sich und jammert, sie nässt sich ein, reißt Löcher ins Linnen … die Ohnmacht legt sich nur noch dichter um ihn.
    Wenn es nur mich getroffen hätte , denkt er. Sie wäre so viel stärker gewesen.
     
    Früher hatte er streng durchdachte Theorien zur Pest. In Oxford an der Universität war er zu dem Schluss gekommen, dass staubreicher Wind in Verbindung mit dem Rauch von den Feldern und der Fäulnis der Erde eine unbekömmliche Atmosphäre schuf, die sich unter Einwirkung großer Hitze als Gift entlud.
    Unter dem Eindruck der zyklischen Wiederkehr der Pestilenz wandte er seine Aufmerksamkeit in späteren Jahren astrologischen Ursachen zu. Diesen Januar hat er drei Tage damit zugebracht, Ausbrüche der Pest in eine Beziehung zur Konjunktion von Saturn und Jupiter im Sagittarius zu rücken.
    Wie dürr und nutzlos solche Abstraktionen in der Stunde der Not werden! Die Theorie weicht der Praxis: dem Wechseln der Verbände, dem Waschen von Laken, dem Aufwischen von Erbrochenem, Galle und Blut.
    Wie wenig er doch gewusst hat!
     
    Die schwarzen Male breiten sich über ihren Leib aus wie kleine Fußspuren. Er probiert alle Heilmittel aus, von denen er je gehört hat: geschälte Zwiebeln rings um das Krankenbett; Orangen und Gewürznelken; Knoblauch, Butter und Salz. Er reibt
ihr die Haut mit Rosenwasser ab. Verbrennt Melasse, Tee, alte Schuhe. Er tunkt einen rotglühenden Ziegel in ein Essigbecken. Macht einen kleinen Scheiterhaufen aus Wacholder- und Lorbeerblättern und trägt ihn in einem Speisewärmer durch alle Zimmer.
    Nichts

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