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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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erfüllen, die Kirchenglocken und läuten mit vollem Klang. Verkünden eine Botschaft, allein für sie bestimmt.
    Du wirst uns fehlen, Margaret. Wir werden traurig sein, wenn du tot bist.
     
    Sie verliert für mehrere Minuten das Bewusstsein. Ein flacher traumloser Schlaf, aus dem sie aufschreckt. Es ist so … still.
    Der Karren hat angehalten.
    Wie weit sind sie gefahren? Wo sind sie? Das auf ihr lastende Gewicht wird schwächer, ein schwacher Sonnenstrahl kommt zu ihr herabgeronnen. Es ist noch Tag. Irgendwo.
    Wieder Luft in der Lunge zu spüren! Sie sinnt gar nicht erst, was der Grund dafür sein könnte. Erst als der Tote über ihr himmelwärts verschwindet, versteht sie, welche Arbeit hier verrichtet wird. Der Karrenmann hat sein Ziel erreicht und führt den letzten Teil seines Auftrags aus. Er entlädt seine Fracht.
    Er dauert gerade mal eine Minute, einen Toten der Ewigkeit zu übergeben. Wodurch es zur bloßen Rechenaufgabe wird, zu begreifen, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Drei Tote folgten ihr auf diesen Karren; drei Tote gehen ihr auf dem Weg in die Grube voran.
    Und als ihre Zeit kommt, ist es nicht schwer, sich totzustellen, nicht nach all der Übung, die sie inzwischen hat. Wie schwerelos sie auf den Armen des Karrenmannes ist. Wie es ihn bekümmern muss, von ihr zu scheiden, denn er beugt sich an ihr Ohr und flüstert:
    »Drei und vier und ab mit dir.«
    Es geht abwärts. Nach unten .
    Vielleicht sechs Fuß, vielleicht zehn, sie könnte es nicht sagen. Aber sie weiß, in welcher Gesellschaft sie sich befindet. Denn sie liegen überall rings um sie herum und unter ihr, und frische folgen ohne Verzug: wie Meteoriten vom Himmel fällt ein Toter nach dem anderen in die Grube.
    Und als es vorbei ist, als keine mehr kommen, liegt sie lange Zeit dort, ganz still, und ihr Atem kommt in dünnen Strömen, ihre Sinne mehr entflammt denn je.
    Der Karrenmann ist fort, wie sie am verhallenden Knarren der Wagenräder merkt. Die Toten liegen offen in der Grube – das Pestjahr ist zu weit fortgeschritten, als dass man sich die Mühe machte, sie zu verbrennen. Die Zeit ihrer Erlösung ist da.
    Ihre Augen springen auf. Wie gut, dass sie nicht mehr zimperlich ist. Die verrottenden Hülsen, die hier so zahlreich um sie gestreut sind . . ihr starres Grinsen, die geschlossenen Augen, die bloßen blauen Glieder mit den noch offenen Wunden … Hindernisse, weiter nichts. Zwischen ihr und dem Licht.
    Sie muss nur einen festen Halt finden, von dem sie sich abstoßen kann. Denn diese Toten scheuen ihre Nähe, sie rutschen unter ihrer Hand weg. Sie muss den Fuß auf die Mitte eines der Elenden setzen, ohne an seine Bequemlichkeit zu denken, und sich hochdrücken .
    Der Geruch allein bringt sie um, aber auch das tut sie ab, wie sie die Identität derer abtut, die sie hier sieht. Nicht Großmutter oder Mutter oder Sohn – Ellenbogen, Schulter, Hüfte. Das lange flachsblonde Haar hier war nie das einer Tochter. Es ist einfach eine ideale Ranke zum Klettern.
    Ihr Stöhnen ist entsetzlich, aber es treibt sie auch an. Es gibt ihr die Kraft, die Lücken und Spalten zu finden, zu tun, was getan werden muss, damit sie die nächste Terrasse erreicht, und das Ersteigen der wieder nächsten in Angriff nehmen kann.
    Und während sie sich mühsam herausarbeitet, scheint die Erdachse zu kippen, so dass sie nicht mehr nach oben steigt, sondern hinaus . Durch dieses Meer aus Fleisch schwimmt  …
    Umso erstaunter ist sie, als sie am anderen Ende einen zweiten Schwimmer erkennt, der genau wie sie das Wasser teilt. Seine Arme recken sich ihr entgegen, sein Mund ist ein Oval. Ihr eigener Mund öffnet sich zu einer Antwort, sie ruft mit dem letzten Atem, den sie womöglich in sich hat.
    » Tom … «

 

    50
    D as Gehen fällt beiden schwer, als sie sich zum Fluss aufmachen. Ihre Kehlen sind ausgetrocknet, ihre Augen blicken starr nach vorn. Es ist fast bestürzend, dass Harriots Boot noch an der Treppe zum Old Swan liegt und auf sie wartet.
    Er hilft ihr hinein. Hält für einen Moment inne, als wolle er die Stadt entweder seinem Gedächtnis anvertrauen oder sie daraus löschen. Dann taucht er die Ruder ein.
    Die ganze Rückfahrt über schweigen sie. Und am Landesteg von Syon House befindet sich auch nichts, was ihnen die Zunge lösen könnte: Keine einzige Fackel, die den Weg weist, denn der Earl of Northumberland und der restliche Hausstand sind schon vor Stunden geflohen.
    Sie müssen das Vorhaben, Harriots Haus zu finden, bald aufgeben

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